Wie Bildung zur Waffe wird: DFG-Projekt zu systemischer Indoktrination in Russland

Seit Russland im Februar 2022 in die Ukraine einmarschiert ist, sind auf beiden Seiten hunderttausende Menschen getötet, verletzt, verschleppt worden. Auch finanziell hat der Krieg seinen Preis, Russlands Wirtschaft kriselt schwer. Warum also unterstützt nach wie vor die Mehrheit der russischen Bevölkerung die Invasion und Präsident Wladimir Putin? Prof. Dr. Krassimir Stojanov, Leiter des Lehrstuhls für Bildungsphilosophie und Systematische Pädagogik an der KU, sieht den wesentlichen Grund in einer massiven Indoktrination im russischen Bildungssystem und geht der Frage nun mit einem Forschungsteam nach.

Das Projekt „Systemische Indoktrination und ihre ideologischen Grundlagen in Russland nach 2022“ an der KU wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) mit rund 566.000 Euro über drei Jahre gefördert. Die zentrale Hypothese: Die auffallend hohe Zustimmung – seriöse Schätzungen liegen bei 70 bis 80 Prozent –  in der russischen Bevölkerung zu Putins Regime und dem Krieg gegen die Ukraine sei nicht allein durch Propaganda und Medienkontrolle erklärbar, sondern beruhe maßgeblich auf einer „planmäßigen Indoktrination im Bildungssystem“. 

Das Forschungsteam: Dr. Fedor Korochkin, Dr. Polina Vasineva und Prof. Dr. Krassimir Stojanov (von links)
Das Forschungsteam: Dr. Fedor Korochkin, Dr. Polina Vasineva und Prof. Dr. Krassimir Stojanov (von links).

Maßgeblich mitentwickelt wurde das Forschungsvorhaben von einem russischstämmigen Ehepaar: Dr. Fedor Korochkin und Dr. Polina Vasineva. Beide hatten unbefristete Positionen an einer großen Universität in Sankt Petersburg in den Bereichen Bildungsphilosophie und Praktische Philosophie. Nach Kriegsbeginn 2022 flohen sie aus Russland und suchten Zuflucht in verschiedenen Ländern und an verschiedenen Universitäten. Mit Unterstützung des Zentrums für Forschungsförderung der KU waren sie für einige Monate auch als Gastforschende an der KU. In dieser Zeit entstanden in enger Kooperation mit Krassimir Stojanov Projektidee und -antrag. Seit Oktober übernehmen Korochkin und Vasineva darin nun als wissenschaftliche Mitarbeiter wesentliche Rollen.

Der Begriff der „systemischen Indoktrination“ aus dem Projekttitel wurde von Korochkin entwickelt. An sich sei das Thema Indoktrination in Pädagogik, Bildungsphilosophie und -theorie nicht neu, erläutert KU-Professor Stojanov – bisher wurde es jedoch vor allem auf das Handeln einzelner Lehrkräfte oder Institutionen bezogen. „In unserem Projekt stellen wir nun die Frage, wie ein ganzes Bildungssystem eine bestimmte Ideologie in die Köpfe der jungen Generation verpflanzt.“ Dafür untersucht das Team staatlich verbindliche Schulbücher, Lehrpläne und Curricula, sowie konkrete Maßnahmen der Zentralregierung. So wurden nach Kriegsbeginn 2022 alle Hochschullehrenden in Russland verpflichtet, ihren Studierenden eine offizielle PowerPoint-Präsentation mit Erklärungen und Rechtfertigungen der sogenannten „militärische Spezialoperation“ zu zeigen. Eine Praxis, die Fedor Korochkin und Polina Vasineva selbst erlebt haben. „Das war der letzte Auslöser für ihre Flucht“, berichtet Stojanov. „Sie haben sich geweigert, diese Propaganda zu verbreiten.“

„Gerade ihre Erfahrungen und Zugänge machen das Vorhaben besonders wertvoll“, betont Stojanov. Flankiert wird das Team durch weitere internationale Partner: den kanadischen Bildungsforscher Christopher Martin, den Dortmunder Erziehungswissenschaftler Johannes Drerup und eine russische Soziologin. Letztere ist Expertin für qualitativ-empirische Forschung und leitete vor dem Krieg ein privates sozialwissenschaftliches Forschungsinstitut in Russland, das inzwischen auf der schwarzen Liste der „ausländischen Agenten“ steht.

Herzstück der zu analysierenden Ideologie ist das Konzept der sogenannten „russischen Welt“ (Russkij Mir). Es verknüpfe nationalistische, traditionalistische und autoritäre Inhalte, erklärt Krassimir Stojanov: „Dazu gehört die Vorstellung, dass alle russischsprachigen Gebiete zur russischen Welt gehören – und dass Russland das Recht und die Pflicht habe, diese zu kontrollieren“, so Stojanov. Die Ideologie betone traditionelle Geschlechterrollen, die orthodoxe Kirche, die nationalen Geschichtsmythen und die russische Sprache als kulturelle Anker. Diese Inhalte fänden nicht nur Eingang in Geschichts- und Sprachunterricht, sondern zunehmend auch in eigens konzipierte neue Fächern wie „Grundlagen der russischen Staatlichkeit“.

Ein wichtiger Aspekt systemischer Indoktrination ist, dass sie selbst ohne Absicht der einzelnen Lehrkraft stattfindet. Es gebe nicht wenige Lehrkräfte, die versuchen, die vom Staat aufoktroyierten Inhalte mit Distanz zu vermitteln und im Unterricht neutrale Themen stark machen. „Für uns ist es eine spannende Frage, inwiefern auch so eine passive Haltung von Lehrkräften zur Indoktrination beiträgt“, sagt Stojanov. Die Forschenden wollen zudem untersuchen, inwiefern sich der Effekt der „closed-mindedness“, also der Verschlossenheit gegen andere Weltansichten, auf den Unterricht auswirkt: „Es gibt Lehrkräfte, die überzeugt sind, ihre Schüler zu kritischem Denken zu erziehen, aber so stark in diesem geschlossenen Weltdeutungssystem gefangen sind, dass sich der Raum für Kritik automatisch minimiert.“ 

Die Relevanz des Projekts geht laut den Forschenden deutlich über die aktuelle politische Situation in Russland hinaus. „Mit Blick auf die gegenwärtige Lage in Europa, den USA und weiteren Teilen der Welt wird deutlich, dass es vielerorts autoritäre politische Strömungen gibt“, betont Krassimir Stojanov. „Für sie dürfte die systemische Indoktrination durch das Bildungswesen mit den Instrumenten, die von Putins Regime entwickelt wurden, eine große Versuchung für die Durchsetzung ihrer antidemokratischen Agenda darstellen.“