„Wir erleben eine enorme Dynamik und Pluralisierung des Religiösen“

Martin Kirschner
© Christian Klenk

Kann man noch von einem „globalen Christentum“ sprechen, wenn sich in einer globalisierten Welt die Ausdrucksformen des Religiösen und Spiritualitäten immer mehr ausdifferenzieren? Was macht den Kern des Christlichen aus, wenn es so gegensätzliche Auslegungen gibt? Im Kontext einer Welt, die global vernetzt und zugleich tief zerrissen ist, fragt eine internationale Konferenz an der KU nach der veränderten Gestalt des Christlichen und nach ihren Möglichkeiten, im Umgang mit Differenzen Brücken zu bauen. Die zweite Jahrestagung des Zentrums Religion, Kirche, Gesellschaft im Wandel (ZRKG), die vom 15. bis 17. Juni in Eichstätt stattfindet, trägt den Titel „Performing Christianities – Differenzfähigkeit des Christlichen in einer globalen Weltgesellschaft“. Was sich dahinter verbirgt und was die Teilnehmerinnen und Teilnehmer erwartet, verrät der Direktor des ZRKG, Prof. Dr. Martin Kirschner, im Interview.

Herr Prof. Kirschner, die Tagung des Zentrums Religion, Kirche, Gesellschaft im Wandel befasst sich mit Aspekten der Globalisierung – warum diese Themensetzung?

Martin Kirschner: Unsere Welt rückt immer enger zusammen. Lange wurde das vor allem als „Globalisierung“ diskutiert, als ein großer Transformationsprozess, der oft mit Modernisierung, Fortschritt und aufgeschlossenem Weltbürgertum, aber auch mit sozialer Ungleichheit, kapitalistischer Ausbeutung und Kolonialismus assoziiert wurde. Inzwischen treten immer schärfer die Aspekte einer planetarischen Krise in den Vordergrund, die in grundsätzlicher Weise die Lebensbedingungen auf der Erde gefährdet. Unser Blick ist dabei meistens an Europa und der westlichen Moderne orientiert. Doch die Gewichte verlagern sich zunehmend auf andere Regionen, die Forderungen einer Dekolonialisierung und der Überwindung wirtschaftlicher und kultureller Hegemonien fordern ethisch heraus.

Und was hat das mit Religion und Kirche zu tun?

Die Verschiebungen gibt es auch im religiösen Bereich. Sie betreffen insbesondere das Christentum: Sein zahlenmäßiger Schwerpunkt und die religiöse Dynamik verlagern sich in den globalen Süden. In der katholischen Kirche wird das durch Papst Franziskus stärker wahrgenommen, es betrifft aber noch stärker das Wachstum von Pfingst- und Freikirchen. Wie im politischen und gesellschaftlichen Bereich sind diese Veränderungen mit scharfen Konflikten verbunden, die nicht nur zwischen Konfessionen oder Kulturräumen, sondern vor allem zwischen unterschiedlichen „Stilen“ und Glaubenskulturen verlaufen – und zwar quer zu konfessionellen und religiösen Grenzen. Wir erleben in der globalisierten Welt eine enorme Dynamik und Pluralisierung des Religiösen, in der Ambivalenzen im Verhältnis zum Heiligen zutage treten: Religion kann Quelle der Hoffnung sein, Menschen zusammenführen, aufrichten, gemeinsames Handeln und Versöhnung ermöglichen. Aber genauso kann Religion auch gegen Probleme und Kritik immunisieren, der Abgrenzung vom Anderen dienen oder Kriege, Terror und Gewalt legitimieren. Auf diese Unterschiede in der Art und Weise, den christlichen Glauben zu verstehen und zu leben, spielt der Titel „Performing Christianities“ an.

Was meinen Sie mit „Christianities“? Geht es um mehrere „Christentümer“?

Im Vorbereitungsteam für die Tagung schien es uns problematisch zu sein, von einem „globalen Christentum“ zu sprechen. Aber mehrere „Christentümer“ trifft es auch nicht. Eher geht es um verschiedene Ausdrucksformen, kulturelle Gestalten und Spiritualitäten, in denen christlicher Glaube im Dialog, in der Abgrenzung oder auch in der Vermischung zwischen Kulturen angeeignet wird. Diese sind ambivalent: Sie können das Beste im Menschen wecken und Quellen für Hoffnung, Vertrauen und Solidarität sein. Sie können aber auch Feindschaft und Gewalt säen. Und hier stellen sich eine Fülle von Fragen, die wir auf der Tagung exemplarisch und aus verschiedenen Perspektiven aufgreifen wollen: Wie lässt sich mit solchen Unterschieden umgehen? Was macht den Kern des Christlichen aus, wenn es so gegensätzliche Auslegungen gibt? Wie ist es möglich den Differenzen, Unterschieden und verschiedenen Kulturen gerecht zu werden, ohne verbindliche Normen, gemeinsame Ziele oder die Universalität der christlichen Heilsbotschaft aufzugeben?

Das ZRKG hat sich zum Ziel gesetzt, sich den großen Themen der Zukunft widmen. Dazu soll – ausgehend von der religionsbezogenen Forschung an der KU – ein interdisziplinärer Austausch, der auch international ist, stattfinden. Wer wird zur Jahrestagung kommen?

Die Thematik fordert es, unterschiedliche Perspektiven einzubeziehen. Das konnten wir in begrenztem Rahmen und zumindest exemplarisch realisieren. Die globale Geschichte des Christentums kommt nicht nur aus katholischer und evangelischer, sondern auch aus ostkirchlicher, religionswissenschaftlicher und missionsgeschichtlicher Sicht in den Blick. So wird die kolumbianische Politikwissenschaftlerin Amaya Querejazu Vorstellungen andiner Kultur aufgreifen. Der Schweizer Theologe und Philosoph Josef Estermann hat jahrelang zu andiner Philosophie gearbeitet und wird nach Ansätzen einer interkulturellen Befreiungstheologie fragen. Oder Tim Noble: Er ist ein katholischer Theologe englischer Herkunft, der viele Jahre in Brasilien gelebt hat und in Prag in ökumenische Kontexten arbeitet. Ionut Untea kommt aus einer rumänisch-orthodoxen Tradition, arbeitet in ökumenischer Perspektive zu theologischen Fragen und lehrt in China westliche Philosophie. Das sind nur einige der Referentinnen und Referenten. Die Auswahl zeigt, wie vielschichtig nicht nur die Zugänge, sondern auch die kulturellen und religiösen Bezüge in unserer Zeit sind.

Die Tagung wird drei Tage dauern – also viel Zeit für ein ausführliches Programm. Was wird die Teilnehmerinnen und Teilnehmer erwarten?

Am Anfang steht eine geschichtliche Annäherung. Klaus Koschorke und Mariano Delgado sind Pioniere einer globalen Christentumsgeschichte, die aus protestantischer und katholischer Sicht Herausforderungen ansprechen, die mit der Überwindung einer eurozentrischen Sicht verbunden sind. Geht es hier um die Ausbildung einer „polyzentrischen Gestalt“ des Christlichen, so widmen sich die beiden Abendvorträge der Herausforderung, wie angesichts der ökologischen Krise und eines fehlenden Grundkonsenses „common ground“ eine Orientierung am Gemeinwohl und an den gemeinsamen Gütern „commons“, „common good“ gedacht werden kann. Das macht Michelle Becka. Amaya Querejazu fragt nach Ansätzen indigener Philosophie und Spiritualität, um über eine anthropozentrische Sicht hinauszugehen.

Und wie geht es am Freitag weiter?

Der Freitagvormittag schließt direkt an, wenn Thomas Fischer die Ambivalenzen der Mission in den Blick nimmt und Josef Estermann nach Ansätzen einer interkulturellen Theologie der Befreiung fragt. Brandom Gallaher von der Universität Exeter und Thomas Kremer von der KU nehmen die kulturellen Konflikte zwischen Ost und West in den Blick, wie sie sich in der orthodoxen Auseinandersetzung mit der westlichen Moderne zuspitzen: etwa im Umgang mit sexueller Diversität, Nationalismus und liturgischer Tradition, womit grundsätzliche Fragen von Identität und Anerkennung berührt sind. Die Spannungen zwischen Nord und Süd, Ost und West, die Vielfalt kultureller Bezüge und die Ungleichzeitigkeiten von Modernisierungsprozessen spiegeln sich im Kontext von Migration und postmigrantischen Gesellschaften. Dies führt zu einer neuen Gestalt von Kirche. Darüber wird der Leiter des Schweizer Pastoralen Instituts, Arnd Bünker, referieren. Karin Scherschel von der KU wird daran anschließend diskutieren, dass dadurch neue Ausschlüsse und Diskriminierung produziert werden, wenn etwa am Islam als Projektionsfläche des Anderen eine eigene, „christliche“ Identität vergewissert wird.

Ein Blick ins Programm verrät, dass es nicht nur Vorträge geben wird, sondern auch Theorien entwickelt und diskutiert werden. Was verbirgt sich hinter einer „Theorienwerkstatt“?

Hier werden wir uns der Frage zuwenden, wie das Allgemeine und das Besondere, Einheit und Vielfalt miteinander vermittelt werden können, sodass in Achtung vor den Differenzen das Gemeinsam-Verbindliche und die universale Hoffnung christlichen Glaubens zur Geltung gebracht werden können. Wir wollen das dann an Fallstudien konkretisieren: Martin Rötting untersucht zwei gegensätzliche „performances“ und Wahrnehmungen des Christlichen im koreanischen Kontext, Katharina Karl nimmt das Ringen von Frauen um religiöse Teilhabe in Argentinien in den Blick, und Michael Zimmermann fragt nach religiösen Subtexten dekolonialer Ansätze in der Kunst. Tim Noble und Ionut Untea nehmen die Konflikte und Polarisierungen zwischen unterschiedlichen Glaubenskulturen in den Blick, die auf eine inklusive oder exklusive Gnadentheologie bzw. auf den Gegensatz zwischen machtorientierten und pro-existenten Glaubensformen gedeutet werden. Die Vorträge spannen so einen weiten Bogen. Es ist aber auch möglich, nur an einzelnen Vorträgen teilzunehmen.

(Die Fragen stellte Maximilian Weidmann.)

Über die Tagung
Die Tagung findet von 15. bis 17. Juni im ehemaligen Kapuzinerkloster an der Universität in Eichstätt (Kapuzinergasse 2) im Raum KAP-206 statt. Vorherige Anmeldung per Mail an zrkg(at)ku.de für die Teilnahme vor Ort oder digital bis 12. Juni. Programm und weitere Informationen unter www.ku.de/zrkg/aktivitaeten/zrkg-tagungen/zrkg-tagung-2023

Über das ZRKG
Das „Zentrum Religion, Kirche, Gesellschaft im Wandel“ ist eine fakultätsübergreifende, interdisziplinäre Forschungseinrichtung der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, die Forschungen im Schnittfeld von Religion, Kirche und Gesellschaft bündelt und anstößt. Dabei steht der Aspekt von Wandel und Transformation im Vordergrund. Am ZRKG werden gemeinsame Forschungsperspektiven entwickelt, um Transformationsprozesse des Religiösen in ihrem Zusammenhang mit gesellschaftlichem Wandel, sich ändernden Wissensformen oder neuen Medien zu untersuchen. Das geschieht in geschichtlicher wie in gegenwartsbezogener Perspektive. WissenschaftlerInnen bringen ihre Forschungen ein, diskutieren methodische Fragen und entwickeln gemeinsame, interdisziplinäre Projekte.