„Wir Lehrkräfte belehren nicht – wir entzünden Hoffnung!“

Ling Yue
© Christian Klenk

Rund einhundert Absolventinnen und Absolventen der Lehramtsstudiengänge sind in der vergangenen Woche an der KU mit einem Festakt feierlich verabschiedet worden. Eine der künftigen Lehrerinnen ist Ling Yue, die in ihrer bewegenden Rede von ihrem Werdegang berichtete und ihrem großen Wunsch, als Lehrerin Kinder beim Heranwachsen zu begleiten. Wir dokumentieren einen Ausschnitt aus Ihrer Ansprache.

Von Dr. Ling Yue

„Im Sommer meines siebzehnten Lebensjahres sah ich zu Hause in China einen Dokumentarfilm über eine junge Lehrerin in einem entlegenen Bergdorf. Den genauen Inhalt des Films habe ich längst vergessen. Doch die Gefühle, die der Film bei mir geweckt hat, habe ich nicht vergessen. Tränen flossen – nicht aus Rührung, sondern aus einer schicksalshaften Berufung: „Ich habe dich gefunden.“ Dieses „Dich“ war wohl mein Lebenssinn, auch wenn ich das damals noch nicht in Worte fassen konnte.

Zunächst nahm mein Leben jedoch eine ganz andere Richtung. Nach dem chinesischen Abitur, dem Gaokao, wurde mir ein Studienplatz in Feinchemie zugewiesen. Es war nicht meine Wahl, sondern der Bedarf des Staates. Ich schloss mein Studium mit einem Bachelor of Engineering ab und wurde Beamtin. Doch der Wunsch, mit Menschen umzugehen, ließ mich nicht los. Also begann ich ein weiteres Bachelorstudium im Fach Psychologie mit dem Ziel, andere zu unterstützen und zu begleiten. Die Psychologie hat ihren Ursprung in Deutschland. Mit einer Mischung aus wissenschaftlichem Interesse und dem Wunsch nach Freiheit kam ich 2008 nach Berlin, um ein Masterprogramm in Public Health zu absolvieren. Danach forschte ich an der Charité, promovierte an der Freien Universität Berlin, zog später wegen der Familie nach Bayern. Ich arbeitete bei einem großen Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsunternehmen in München als Assistent Managerin. Aber all das hat mich nicht wirklich glücklich gemacht.

Ling Yue
KU-Vizepräsident Klaus Meier gratuliert Ling Yue bei der Examensfeier

Ich wollte Menschen unterstützen – nicht nur beruflich, sondern im Leben. Ich bin zertifizierte psychologische Beraterin und Life Coach und habe lange Zeit Erwachsene online begleitet. Doch meine Erfahrung zeigt: Erwachsene sind schwer zu verändern. Die beste Lösung? Früh ansetzen – bei Kindern. Mein eigenes Leben beweist es: Wissen verändert das Schicksal. Bildung gestaltet die Zukunft.

Während der Corona-Zeit stellte ich mir die Frage: Ist jetzt die Zeit für einen Neustart, für eine zweite große Neuorientierung in meinem Leben? Und dann kam dieser Moment aus meinem siebzehnten Lebensjahr mit voller Wucht zurück: „Geh! Jetzt ist die Zeit.“

Die Entscheidung, wieder zu studieren, fiel mir leicht. Schwieriger war es, mit über 40 Jahren im Hörsaal zu sitzen – umgeben von Kommilitoninnen und Kommilitonen, wie meine liebe Freundin Paulina, die meine Kinder sein könnten. Zum Glück war ich nicht allein – es gibt viele „Mama-Studentinnen“ an unserer Uni, wie meine liebe Freundin Oxana. Ihre Offenheit hat mir geholfen, meine Altersängste hinter mir zu lassen. Ich saß immer in der ersten Reihe – und stellte den Dozentinnen und Dozenten vermutlich die meisten Fragen. 

Ich erinnere mich noch gut an mein erstes Präsenzseminar nach der Pandemie:  „Classroom Management – Aspekte guter Klassenführung“. Unsere Dozentin sagte: „Seien Sie stolz – Sie sind die Lehrerinnen und Lehrer.“ Damals dachte ich: Ich bin selbstbewusst, aber brauche ich extra Stolz? Heute, am Ende meines Studiums, verstehe ich sie. Die Bedeutung unseres Berufs wird oft unterschätzt – auf der ganzen Welt. Aber ich sage aus tiefster Überzeugung: Wir Lehrkräfte belehren nicht – wir entzünden Hoffnung. Wir begleiten Kinder nicht nur beim Heranwachsen – wir begleiten die Zukunft in eine bessere Welt. Wir sind Lehrerinnen und Lehrer, und wir sind stolz darauf!

Liebe Dozierende, bitte haben Sie Vertrauen: Wir geben unser Bestes – mit einer Seele, die eine andere Seele erweckt!

Liebe Mitabsolventinnen und Mitabsolventen, unsere Hände formen die Zukunft. Lasst uns mit Stolz diese Verantwortung tragen!

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Leben ist manchmal ein Geschenk, aber oft eine Herausforderung. Wenn uns jemand mit Schlamm bewirft, pflanzen wir damit Blumen. Wenn uns jemand mit Steinen bewirft, bauen wir damit ein Haus. Wir werden uns nicht verstecken – wir werden nur Licht in unseren Augen haben.“

Lehramtsfeier
Rund 100 Lehramtsstudierende haben ihr Examen gefeiert