Zahlen lügen nicht!? Forschungsprojekt zur Entstehung und Wirkung von Fußball-Daten

Passgenauigkeit, Ballbesitz, Zweikämpfe – viele Bereiche des Fußballspiels werden mittlerweile exakt vermessen. Während der laufenden Weltmeisterschaft sind solche Informationen selbstverständlich. Auch in die Bundesliga haben die statistischen Daten längst Einzug gehalten. Welche Effekte diese Quantifizierung des Fußballs hat und wie die Daten entstehen, untersucht derzeit Franziska Hodek, wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Servicestelle Methoden der KU. Den Schwerpunkt ihres qualitativ-empirischen Promotionsprojekts „Spiel- und Spieleranalysen im Profifußball. Verfahren und Effekte visuellen und quantifizierenden Berichtbarmachens“ bilden soziologisch-ethnografische Untersuchungen.

Was versteht man unter Quantifizierung?

Quantifizierung ist eine gesellschaftliche Entwicklung, die wir in den letzten Jahrzehnten in vielen gesellschaftlichen Bereichen verstärkt beobachten können, wie Bildung, Wissenschaft oder Gesundheit. Dabei wird immer versucht, Phänomene, Geschehnisse oder Eigenschaften in Zahlen zu übersetzen, und dafür entsprechende Methoden einzusetzen. Was man sich davon verspricht, ist eine evidenzbasierte Bewertung dieser Größen, an der man bestimmte Entscheidungen festmacht. Man versucht auf diese Weise das Geschehen steuerbar zu machen und zu kontrollieren.

Auf den Fußball übertragen: Welche Quantifizierungen gibt es und welche Ziele stecken dahinter?

Im Fußball hat sich in der bisherigen Forschung gezeigt, dass es in verschiedenen Anwendungskontexten verschiedene Arten von Quantifizierungen gibt. Erstens lassen sich da als klassische Fußballakteure die Vereine und deren Verantwortliche nennen. Sie versprechen sich zum einen, anhand der Zahlen Transferentscheidungen besser treffen zu können. Zum anderen nutzen sie Zahlen, um sich auf Gegner vorzubereiten und deren Stärken und Schwächen aus den Daten herauszulesen, zu interpretieren und ihr taktisches System entsprechend umzustellen. Ein wichtiger Punkt, warum überhaupt quantifizierte Daten in Auftrag gegeben werden, sind zudem Vermarktungsstrategien. Ziel ist es dabei, dem Publikum – auch über die Medien – zahlenbasiertes Wissen zur Verfügung zu stellen. Die Medien sind ein weiterer wichtiger Anwendungskontext. Hier gibt es allerdings eine andere Quantifizierungsstrategie als bei den Fußballvereinen, denn den Medien geht es nicht darum, sportliche Erfolge zu erzielen, sondern darum, anhand der Zahlen Nachrichtenwert zu schaffen. Quantitative Daten dienen als Aufhänger und das Storytelling wird auf sie ausgerichtet.

Woher kommt dieser Trend zur Quantifizierung?

Die Entwicklung hin zu einer zunehmenden statistischen Datensammlung und -aufbereitung im Sport ist kein neues Phänomen, sondern kommt eigentlich aus US-amerikanischen Sportarten, allen voran aus dem Baseball. Dort haben Zahlen bereits in den 1970er Jahren Eingang gefunden, mittlerweile gehören sie wie selbstverständlich zum sportlichen Geschehen und werden kaum mehr hinterfragt. „Key Performance Indicators“, die für die Leistung von Baseball-Spielern stehen, sind fest etabliert. An dieser Praxis hat sich der Fußball seit Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre orientiert. Allerdings musste und muss er, weil die Spielanlage doch eine andere als im Baseball ist, seine eigene Quantifizierungsstrategie entwickeln.

Wie kommen die Akteure an Zahlen und Daten?

Im deutschen Fußball wurde ein flächendeckender Auftrag für alle 36 Bundesligavereine erstmals Anfang der 2010er Jahre von der DFL vergeben. Ein Datendienstleister wurde beauftragt, sogenannte „offizielle Spieldaten“, an deren Definition die DFL sowie ehemalige und aktive Fußballakteure beteiligt waren, zu erheben. Für die Live-Analyse der Fußballspiele ist eine separate Abteilung zuständig und dort, wie in meinem Fall beobachtet, jeweils vier Personen pro Spiel. Die sitzen am Computer vor einer Vielzahl an Bildschirmen, auf denen die Fußballübertragung läuft. Entsprechend dem Definitionskatalog, der in die Software einprogrammiert ist, geben sie bei jeder Ballabgabe, jedem Torschuss, jeder Karte usw. eine bestimmte Mausklick- und Tastenkombination ein und befüllen so sukzessive die Datenbank. Im Stadion werden gleichzeitig über sogenannte „Tracking“-Kameras Laufwege und Laufgeschwindigkeiten der Spieler aufgezeichnet, die ebenfalls in der Datenbank landen. Auf den Datensatz haben andere Akteure Zugriff. Die DFL reicht zum Beispiel die Daten nach jedem Spieltag kostenlos an ihre Mitgliedsvereine weiter. Die Interpretation der zig Tabellen obliegt den Vereinen dann selbst. Gleichzeitig gehen die Daten noch während des Spiels an Medienunternehmen, die über Daten-Feeds ihre Live-Ticker befüllen. Seit letzter Saison ermittelt die DFL diese Daten selbst, allerdings weiterhin in Kooperation mit einem Datendienstleister.

Welche Auswirkungen haben diese Datenberge auf die Beteiligten?

Die in der Öffentlichkeit am stärksten wahrnehmbare Auswirkung ist die veränderte Art der Berichterstattung. Reporter können nun live auf statistische Daten zurückgreifen. Anhand von Fact-Sheets lassen sich zahlenbasierte Kommentare auf das aktuelle Spielgeschehen beziehen, sodass das laufende Spiel durch die quantifizierenden Zahlenwerte berichtbar gemacht wird. Eine weitere Auswirkung ist organisationaler Art: Bestimmte neue Akteursgruppen werden für das Feld Profifußball relevant. Zum einen natürlich die Datendienstleister, zum anderen aber auch Wettanbieter, die stark abhängig sind von Datenströmen, oder Videospielhersteller, die ihre Spieler-Avatare auch aufgrund statistischer Daten entwickeln. Die wohl wichtigste Auswirkung betrifft aber den Fußball selbst: Arbeitspraktiken in den Vereinen verändern sich dahingehend, dass bestimmte taktische Systeme aufgrund der Interpretation von zugelieferten Daten eingesetzt werden oder dass zum Beispiel Spieler aufgrund bestimmter Leistungsdaten verpflichtet werden. Ein Schlagwort ist der berühmte Tiki-Taka-Spielstil: Die Forschungsliteratur geht davon aus, dass diese taktische Variante ein Produkt auf Basis der Neuentwicklung von statistischen Quantifizierungspraktiken ist.

Stichwort Tiki-Taka: 75 Prozent Ballbesitz, unglaubliche 1137 Pässe – trotzdem schied die spanische Nationalmannschaft im WM-Achtelfinale gegen Russland aus. Was sagen all die erhobenen Daten wirklich aus?

Diese Frage kann exemplarisch für den dritten Schwerpunkt meines Promotionsprojekts stehen, das Hinterfragen, Kritisieren und In-Zweifel-Ziehen der verschiedenen Quantifizierungspraktiken im Profifußball durch beteiligte Akteure. Denn ganz offenbar fragen sich Zuschauerinnen und Zuschauer wie Sie und ich: Warum werden uns solche Zahlen eingeblendet, wenn sie auf das Ergebnis keinen Schluss zulassen? Wir stellen also die Aussagekraft der Werte mit Blick auf das Endergebnis in Frage und kommen ins Überlegen, inwiefern Passquoten, Ballbesitz und Torschüsse für die Vorhersage des Spielausgangs nützlich sein können. Wir reflektieren über ihren Sinn und Zweck, wir betreiben sense-making und kommen dabei zu unterschiedlichen Ergebnissen. Eines dieser Ergebnisse kann der Versuch sein, neue, „aussagekräftigere“ Parameter zu entwickeln, wie beispielsweise die sogenannte „Packing Rate“, die in der deutschen Fernsehberichterstattung erstmals zur EM 2016 auftauchte. Um Analysepraktiken entspinnen sich im Profifußball also vielfältige Kritiken, die – wie die Quantifizierung selber – an der Veränderung der sportlichen Praxis mitwirken. Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Aus meiner Forschungsperspektive würde ich eher formulieren, was die Daten tatsächlich bewirken. Und das ist eben z. B. eine zahlenbasierte Spielkommentierung und Berichterstattung, in die die von Datendienstleistern erhobenen Werte eingebunden werden. Oder die (Nicht-)Anwendung eines bestimmten Spielsystems, zum Beispiel Ballbesitzfußball à la Tiki-Taka. Durch einen „Glauben“ an die Zahlen und ihre Evidenz wird das fußballerische Geschehen selbst verändert.