Zeit – Zur Temporalität von Kultur. 43. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde in Regensburg

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dgv-Tagung auf April 2022 verschoben

Der dgv-Kongress zu Zeit – Zur Temporalität von Kultur. 43. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde in Regensburg soll als Präsenzveranstaltung im Zeitraum von 4.–7. April 2022 stattfinden. Aufgrund der Infektionsdynamik um die COVID-19-Pandemie und den damit verbundenen organisatorischen Unwägbarkeiten einer Präsenzveranstaltung sind Veranstalter*innen und Ausrichter*innen des 43. dgv-Kongresses (Regensburg, 4.–7. April 2022) nun überein gekommen, die Tagung als Online-Konferenz via ZOOM zu realisieren.

Kultur und Zeit sind untrennbar verbunden. Kultur verändert sich innerhalb der Zeit und strukturiert zugleich Vorstellungen von Temporalität. Die Speicherung und Weitergabe von Wissen über lange Zeiträume hinweg organisieren kulturelle Handlungen, Identitäten und deren Transformationen. Diese Praktiken ermöglichen überhaupt erst Positionierungen des Menschen gegenüber der Welt, der Vergangenheit und der Zukunft, gegenüber kulturellen Prozessen und gesellschaftlichen Konventionen. Die Zeitlichkeit von Kultur ist eine grundsätzliche Prämisse empirisch-ethnografischer und historisch ausgerichteter kulturwissenschaftlicher Forschung.

Zeit ist aus Sicht einer empirischen Kulturwissenschaft eine grundsätzliche kulturelle Ordnungsleistung und – anders als in anderen Disziplinen – keine präexistente, der Kultur vorgängige physikalische Größe.

Temporalität fundiert die Auffassung von Kultur als prinzipiell geschichtlichem Phänomen. Zeitliches Handeln und Wissen sind immer raum- und sozialspezifisch. Die Wahrnehmung und Bedeutung von Zeit in Alltagskulturen unterliegt somit ständigem Wandel und soziokulturellen, politischen, räumlichen, ökonomischen oder biografischen Differenzierungen. Kontinuitäten, aber auch Konflikte zwischen divergierenden Zeitpraxen formieren in komplexer Wechselwirkung mit raumbezogenen und sozialen Kategorien individuelle und kollektive Identitäten. Zeitkulturen verleihen Gesellschaften ihren Rhythmus: Erinnerungspolitiken und Zukunftspraxen, Altersvorstellungen und Ereignisse des Lebenslaufs, die unterschiedlichen Tempi gegenwärtiger Arbeits-, Wirtschafts-, Konsum- und Freizeitwelten. Nicht zuletzt haben zeitliche Taktungen auch eine ökonomische Dimension der Wertschöpfung, sowohl in der Arbeitszeit wie in der Freizeit.

Aktuell illustrieren verschiedene Entwicklungen, welche hohe Bedeutung einerseits Retrotopien und Revisionen des Vergangenen, andererseits auch Utopien, Nachhaltigkeitsvisionen und zukunftsgerichtetes Handeln besitzen. Klimawandel, reaktionäre politische Systeme oder „Heritage-Boom“: Zahlreiche globale Konflikte des Anthropozäns entfalten sich entlang gegenläufiger kultureller Bewertungen von Kontinuität und Wandel, von Tradition und Moderne, von Fortschrittseuphorie und Zukunftsangst, von zyklischen und linearen Zeitmodellen, von Vergänglichkeit und Verlust. Die großen Individualisierungsschübe des 20. und 21. Jahrhunderts und die neoliberale Transformation sozialer Systeme und Arbeitswelten haben dabei zu einer Pluralisierung zeitlicher Ordnungen, historischer Erinnerungskulturen, Zukunftspraxen und etablierter Zeitregime geführt.

Das Interesse an Zeitlichkeit, der Gewordenheit und dem Werden gegenwärtiger Alltagswelten ist ein zentraler Ausgangspunkt von Forschung im Kontext Europäischer Ethnologie. So formierte sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts nicht nur eine erste ethnografische Epistemologie in der Auseinandersetzung mit der Zeitlichkeit von kulturellen Phänomenen – hier in erster Linie Kontinuitäten und Traditionen –, sondern auch ein breites öffentliches Bewusstsein für die wachsende Bedeutung von Zeitregimen in der entstehenden industriellen Welt. Nicht zuletzt aufgrund jenes fachspezifischen Interesses an Traditionen und Transformationen, verfügt die Empirische Kulturwissenschaft / Kulturanthropologie / Europäische Ethnologie als historisch fundierte und gegenwartsorientierte Disziplin über besondere theoretische und methodische Kompetenzen in der Auseinandersetzung mit zeitlichen Ordnungssystemen, die etwa Thesen vom „Fall des Zeitregimes der Moderne“ (Ass-mann 2013) empirisch reflektieren kann.

Zeitvorstellungen und -wahrnehmungen sind zugleich von langer Dauer und hochgradig dynamisch, teilweise universell und doch immer lokalisiert. Die Perspektive „Zeit“ eröffnet Blicke auf Phänomene von Verdichtung, Be- und Entschleunigung sowie Resonanzen und Dissonanzen in makro- und mikrosozialen Kontexten. Die Durchdringung individueller und kollektiver Lebenswelten durch Rhythmisierungen und Wertzuschreibungen bildet hier einen Fokus. Zeit als kulturelle Ordnungsleistung bleibt dabei nicht lediglich eine immaterielle Größe, sondern manifestiert sich vielfältig auch in der Materialität von Kultur. Die Entwicklung von Kalendarien und Uhren etwa verweist dabei ebenso auf naturräumliches Erfahrungswissen (Klimaperioden, Vegetationszyklen, Mondphasen). Über die Etablierung von Mess- und Vergleichstechniken entwickeln Zeitregime in ihrer kulturellen Dinghaftigkeit vermehrt Macht als Taktgeber globaler Welten. Zeitmessungen und -kontrollen sind wichtige Kulturtechniken im Alltag. Jüngere digitale Regime entchronologisieren aktuell viele dieser traditionellen Muster und etablieren neue (A-)Synchronizitäten zum Beispiel von Arbeit und Freizeit, dem Lokalen und dem Globalen.

Moden und Trends bieten alltägliche Rhythmen und biografische Orientierungen, indem sie Kulturen der Unterhaltung und des Vergnügens, der Körperlichkeit, aber auch der Kleidung und Ernährung strukturieren. Der „Zeitgeist“ misst kulturellen Phänomenen aus geschichtlich-sozialen Kontexten heraus Wertigkeit und Bedeutung zu und steht dabei selbst beständig im Mittelpunkt der Frage eines „guten“ oder „zeitgemäßen“ Lebens – etwa auch dann, wenn es um Fragen der Beschleunigung und der gefühlten zeitlichen Verdichtung unserer Alltage geht, um Freizeit und Muße oder der Vorstellung von „Zeitverschwendung“. So besteht zwischen der Fremd- und Selbstbestimmtheit zeitlicher Regime eine breite Kluft, die historische und gegenwärtige Identitäten grundsätzlich formiert, besonders in Bereichen wie den Arbeits- und Freizeitkulturen mit ihren Formen und Formaten der Selbstorganisation und Selbstoptimierung, aber auch im Alltag wie in Mahlzeitensystemen und im Konsum.

Zeitliches Handeln findet in der Gegenwart statt, richtet sich aber – etwa in Festen und Ritualen – oft auf Vergangenheit oder Zukunft und impliziert so Planen und Hoffen ebenso wie Erinnern und Vergessen. Der politische und religiöse Rekurs auf Geschichte etabliert Vergangenheiten, die zeitlich in die Gegenwart hineinragen und diese fundamental prägen und in Wert setzen – nicht zuletzt auch über die Materialität von Kultur, etwa in Retro-, Vintage- oder Sammelpraktiken. Die Konjunktur von Cultural Heritage fällt ebenso unter diese aktiven Zeitpraxen wie die auf eine lebenswerte Zukunft gerichteten Proteste der „Fridays for Future“-Bewegung oder Praktiken der Nachhaltigkeit, etwa im Bereich der Ernährung und der Landwirtschaft. Gerade das Bewusstsein der Eigenzeit von Ressourcen und Narrative der Vergänglichkeit und Endlichkeit bilden einen basso ostinato gesellschaftlicher Debatten zum Anthropozän, der globale Produktions- und Konsumkulturen an-gesichts einer fragilen Zukunft grundsätzlich infrage stellt.

Als machtvolle kulturelle Ordnungskategorie steht Zeit also im Mittelpunkt konkurrierender Wissens- und Werteordnungen und ist damit selbst ein Gegenstand kulturwissenschaftlicher Wissens-produktion.  Vor allem die scheinbar unendlichen Möglichkeiten digitaler Wissensspeicher leiteten in den letzten Jahrzehnten einen Paradigmenwechsel in der Sichtbarkeit von Vergangenem ein. Vor allem kulturhistorische Museen stehen vor dem Hintergrund dieser zunehmenden Synchronizitäten historischer Repräsentationen, Utopien und Dystopien inmitten einer wachsenden politischen und nationalkulturellen Aneignung von Geschichte vor gewaltigen Herausforderungen. Zeitlichkeit als strukturgebende Bedingung wird dabei in den Museen anhand des Sammelns und Kuratierens, des Erzählens und Erinnerns, aber auch im Kontext von Public History und Citizen Science deutlich, darüber hinaus fordert sie auf der Ebene methodologischer Diskussionen und im Forschungsprzess eine fortwährende Auseinandersetzung ein.

Aus aktuellem Anlass

In Krisenzeiten brechen unbekannte und unvorhersehbare Entwicklungen etablierte und vertraute Strukturen auf; Alltagsroutinen, Sicherungssysteme und materielle Existenzbedingungen verlieren ihre Basis; politische, ökonomische und soziokulturelle Systeme formieren sich neu. Auch zeitliche Ordnungen verschieben sich massiv, wie sich in der aktuellen CORONA-Krise zeigt: Zeit wird – je nach Lebenszusammenhängen – be- oder entgrenzt, persönliche und gesellschaftliche Planungen verlieren ihre Verbindlichkeit oder erhalten nun besondere Dringlichkeit, Bezüge zwischen Zeit und Raum müssen neu definiert werden, neue (Un-)gleichzeitigkeiten entstehen und bestehende werden verschärft. Soziale Beziehungen lösen sich teilweise von nahräumlichen Bezügen und sind verstärkt an Wissen über und Verfügbarkeit von technischen Geräten gebunden. Die Folgen von Beschränkungen auf der einen und Freiräumen auf der anderen Seite sind ebenso Verlust von Vertrauem und Verlässlichkeit wie verstärkte Hoffnungen auf eine Zukunft mit solidarischen Vergemeinschaftungsprozes-sen. Dystopische und utopische Vorstellungen überlagern sich und illustrieren die Widersprüchlichkeit und Offenheit der gegenwärtigen Herausforderung.
Eine kulturwissenschaftliche, theoretisch informierte Auseinandersetzung mit Zeit und der Zeitlichkeit von Kultur scheint gerade angesichts der globalen Pandemie mit den politischen, sozialen, ökonomischen Verwerfungen dringlicher denn je." (aus dem Call for Papers)