Forschungsschwerpunkte

Religion

Devotionalien

Religion in ihrer Vielfalt an Erscheinungsformen ist ebenso wie die Vielfalt der Sichtweisen auf Religion eine kulturelle und soziale Tatsache. Kulturwissenschaftliche ethnologische Forschung nimmt vor allem die „gelebte Religion“, die alltägliche Glaubenspraxis oder Alltagsreligiosität und ihre symbolischen Handlungen über Körperpraktiken (Gebärden und Rituale, Bekleidung, Schmuck, Bemalung,) Bilder, Musik, Gerüche und Gegenstände in ihren kulturellen, sozialen und historischen Zusammenhängen in den Blick. Exemplarisch kann hier gezeigt werden, inwieweit Religion eine kultur- und gesellschaftsprägende Kraft ausübt und andererseits inwieweit gesellschaftliche Zusammenhänge auf religiöses Verhalten Einfluss nehmen.

Während der Religionsbegriff im Alltäglichen implizit mit einer glaubensfideistischen Perspektive verbunden wird, verfolgen europäisch ethnologisch, kulturanthropologische Studien zur Religion und Religiosität einen methodischen Agnostizismus, bei dem es keine Rolle spielt, ob etwas dogmatisch richtig, wahr oder falsch, rational oder irrational ist. Vielmehr interessiert, was Menschen für wirklich halten und in ihren Lebensvollzug, ihren Handlungen verwirklichen.

Alltagsreligiosität und Spiritualität folgen in den westlichen Gesellschaften Europas immer weniger den tradierten Regeln der jeweiligen institutionalisierten Bekenntnisgemeinschaften, wie den etablierten Kirchen. Katholisch, orthodox, protestantisch, jüdisch, muslimisch, buddhistisch „sein“ vollzieht sich mehr oder weniger, meist situativ über Aneignung und Anpassung, subjekt- und erfahrungsorientiert nach eigenem Vermögen.

Ein plurales, unüberschaubares Angebot aus Lehren, Artefakten und Praktiken weltweit über den Internetzugriff führt seit dem Ende des 20. Jahrhunderts zu „neuen“ (populären) Religiositäten und Spiritualitäten, die nicht mehr oder kaum mehr von traditionellen religiösen Institutionen bestimmt sind. Weltweite religiöse Traditionsbestände aus Okzident und Orient, von fernöstlichen Religionen und Philosophien, oder indigener Stammeskulturen werden zu religiösen Bricolagen gestaltet.

Religion von Bekenntnisgemeinschaften wie den etablierten Kirchen hat in den westlichen modernen Gesellschaften inzwischen den selbstverständlichen Status für die Strukturierung des Alltäglichen für viele verloren. In politischen, medialen und inzwischen alltagskulturellen Feldern der Kommunikation ist Religion aber zu einem viel gebrauchten Topos geworden, über den schnelle und scheinbar einfache Erklärungsmuster für (trans)nationale, gesellschaftliche Problemfelder und/ oder angenommene und deklarierte gesellschaftliche Anomalien angezeigt werden. So ist in der der Alltagswahrnehmung und Deutung der pluralen Gesellschaften eine zunehmende ‚Religionisierung‘ sozioökonomischer und gesellschaftspolitischer Probleme (Zuwanderung, Gentrifizierung, Jugendkriminalität, Armut etc.) im Zusammenhang von Governance und religiöser Vielfalt festzustellen (Religion als Ressource/Gefahr). Religion als Identitätsmerkmal spielt bei symbolischen und faktischen Ein- und Ausschlüssen, Grenzziehungen zu und zwischen Gruppen insbesondere auch in öffentlichen Räumen eine nicht unerhebliche Rolle. Im Rahmen migrantischer Erfahrungen und Fremderfahrung von Migration scheint zudem eine Intensivierung und/oder Hybridisierung religiös bestimmter Lebensführung feststellbar. Transnationale Netzwerke und translokale digitale Kommunikationsräume scheinen maßgebliche Bedeutung für die Aufrechterhaltung von Normen, Praktiken und Identitäten im Rahmen der Selbstorganisation von Religionsgruppen der Zuwanderungsgesellschaft zu besitzen

Migration

Migration

Migration, Ein-, Aus- Transit- und Binnenwanderungen wie auch Fluchtbewegungen sind keine jungen oder neuen Prozesse, sie gehören zur menschlichen Existenz. Von Einwanderungsgesellschaften werden Zuwanderungen, so auch aktuell in Europa, vorrangig als krisenhaft erlebt und wahrgenommen. Die konkrete Erfahrung und das medial vermittelte Wissen darüber begleitet aktuell besonders konflikthaft geführte öffentliche migrations- und integrationspolitische Debatten. Exklusion und Integration, Ausschluss und Teilhabe von/an sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Ressourcen stehen in enger Verbindung zu Fragen künftigen Zusammenlebens.

Die Zusammenhänge, Bedingungen und Wechselwirkungen von institutionellen behördlichen und staatlichen Politiken sowie öffentlichen Diskursen als Elemente eines alltagsvirulenten Migrations-Dispositivs und sozialen Deutungsordnungen im Alltag von Migrant_innen und Nicht-Migrant_innen sind hierbei von besonderem Interesse.

Migration hat zur Folge, mit veränderten äußeren Lebensbedingungen, dem Arbeitsumfeld und der Wohnumwelt und damit verbundenen sozialen und kulturellen Ein- und Umstellungen konfrontiert zu sein. Migration hat einen erheblichen Einfluss auf individuelle und kollektive Selbstkonzepte. Dies eröffnet z. B. Fragen, welche Macht- und Kontrollbeziehungen, sozialen und kulturellen Ab-, Ein- und Ausgrenzungen, Identifikationen und Identitäten mit hervorgerufen werden und wie diese über praktisches Handeln (Zustimmungen, Oppositionen, Widerständigkeiten) in materiellen Repräsentationsformen und Symbolproduktion ihren Ausdruck finden. Oder inwieweit beispielsweise Religion als potentieller Faktor sozialer Ordnungen für die Lebenswelten und die alltägliche Lebensbewältigung von Migrant_innen und Nicht-Migrant_innen von Bedeutung ist und wenn ja, auf welche Weise.

Es handelt sich dabei um sensible zwischenmenschliche Felder, in denen Migrationserfahrung der Zuwanderer_innen und die Konfrontation der Ansässigen mit den Ankommenden angesichts politischer, sozialer, ökonomischer und rechtlicher Strukturen und deren Veränderungen oft zu angespannten Situationen führt. Sie beeinflussen auch das Verhältnis von Forscher_innen und Forschungsteilnehmer_innen, ein Feld, in dem Menschen unterschiedlichster Herkunft und Sprachen interagieren. Dolmetscher_innen nehmen hier eine bedeutende Position in der Kommunikation ein. Die Analyse und Deutung der Kontaktsituationen, des konzeptuellen Zugangs als kulturelle Übersetzungskonstellationen verlangt, die Rolle des Ethnologen bzw. der Ethnologin als „Dolmetsch“ (Girtler 2009), also die wissenschaftliche Übersetzungsarbeit besonders zu reflektieren.

Kultur und Medien

Equilizer

Kultur zu untersuchen heißt immer zugleich Medien und Medialisierungen zu untersuchen. In einem weit gefassten Sinn kann jede Materialität als Medium, als Datenträger zur Übermittlung von codierten Botschaften, Bedeutungen werden. Anders formuliert, ein Medium bringt diese zur Erscheinung, materialisiert, objektiviert sie, macht sie sichtbar, hörbar spürbar. Nicht nur Sprache, Texte und Bilder (populäre Lesestoffe, Filme, Fernsehserien, Werbung, Websites, social media, Videospiele, etc) sind kommunikative Medien. Alle Dinge, der Körper und Gesten, ja komplexe Formationen wie Lebensstile sind medial vermittelte und wahrgenommen Information und Bedeutungsträger. Der menschliche Körper als Medium von Bildern und Zeichen, Tönen und Klängen, Gerüchen spielt eine entscheidende Rolle für Vergesellschaftungsprozesse. Auch das Ephemere, das Flüchtige, kaum fassbar Materialisierte, Klänge und Geräusche können Medien sein. Mit dem Erfassen von Klang ist weit mehr als das Empfangen von physikalisch-akustischen Reizen verbunden. Er wird an selbstverständlich gewordenen oder weniger angeeigneten verinnerlichten Hörerfahrungen angeglichen und abgeglichen. Situationsabhängig drückt sich dies etwa in der Empfindung und Beurteilung von Klang aus. Die Suche nach dem ‚dem Sound‘ etwa und den dazugehörigen Techniken und Praktiken des Hörens ist ein wachsender populärkultureller Trend.

Europäische Ethnologie nimmt vorrangig „Medien der Alltäglichkeit“ (Bareither) in den Blick, die als integrale Bestandteile von Alltagswelten zugleich den Alltag mit konstituieren. Wie Menschen ihre Praktiken gestalten, wahrnehmen, erfahren, deuten unterliegt kulturellen (ökonomischen, technischen, sozialen) Bedingungen. Die verschiedenen medialen (Alltags)Praktiken und Routinen und populärkulturellen Formate können damit in ihren je zu verortenden Kontexten als Indikatoren für gesellschaftliche Dynamiken und Machtverhältnissen analysiert werden.

Auch Forschungspraxis unterliegt medial geprägter Wahrnehmung, mit der Kultur gestaltet wird und kann als Selbstwahrnehmung von Gesellschaften beschrieben wird. Ethnographische Texte, Zeichnungen und Fotografien, Tonaufnahmen, ethnografische Filme, Hörfeatures, Ausstellungen etc. sind Formen der Mediatisierung, Kulturtechniken. Sie werden als Forschungsinstrumente der Datenerhebung und -analyse sowie Deutung und ihrer Vermittlung, für Belange der Dokumentation, Inventarisation und Illustration eingesetzt.