Interdisziplinärer Austausch zu Demokratie, Gerechtigkeit und Medien mit Prof. Dr. Alexander Danzer, Prof. Dr. Rico Behrens und Prof. Dr. Friederike Herrmann
Nach Beginn des Kriegs gegen die Ukraine 2022 sprach Bundeskanzler Olaf Scholz in einer Regierungserklärung von einer „Zeitenwende“. Seither machte der Begriff eine steile Karriere und wird längst nicht mehr nur für den Ukraine-Kontext verwendet. Wie würden Sie den Status quo in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik beschreiben?
Prof. Dr. Alexander Danzer: Ich glaube, der Begriff Zeitenwende trifft sehr vieles von dem, was wir gerade beobachten. Der frühere Ruf aus der Wirtschaft, der Staat möge sich zurückziehen, wirkt derzeit vollkommen fremd. Die Wirtschaft ist eher extrem beunruhigt darüber, dass der Staat so schwach, so verletzlich erscheint. Die Krise scheint zum Normalzustand zu werden. Dabei beobachte ich politisch eine gewisse Ohnmacht. Man scheint überfordert mit alledem, auch ob der Gleichzeitigkeit dieser Punkte. Und besonders als Ökonom reibe ich mir ein bisschen die Augen. Man versucht, jeden zu finanzieren, sowohl das Auto als auch die Bahn. Jeder potenzielle Wähler soll sich selbst im Zentrum der Politik sehen. Das ist natürlich so nicht finanzierbar. Für mich ist es eklatant zu sehen, wie wenig von dem, was die Wissenschaft weiß, in die politische Praxis einfließt. Wir sind kein innovatives Land mehr, wir haben unsere Innovationsfähigkeit auch wirtschaftlich sehr stark eingebüßt.
Prof. Dr. Rico Behrens: Sie sprechen die Gleichzeitigkeit der Themen an, Herr Danzer, und den Versuch, möglichst vielen gerecht zu werden. Aber Politik muss seit jeher viele Themen gleichzeitig behandeln. Den Begriff der Zeitenwende würde ich daher ein stückweit relativieren. In der politischen Bildung haben wir seit mindestens 50 Jahren das Konzept der Schlüsselherausforderungen. Diese Herausforderungen bestehen etwa in der existenziellen Bedrohung durch Krieg und der Notwendigkeit von Frieden sowie dem Schlüsselproblem von Gerechtigkeit – mit einem Brückenschlag zu Ökonomie und Wirtschaftspolitik. Gleiches gilt für den Umgang mit Medien oder Fragen der Umweltzerstörung, die ebenfalls seit Jahrzehnten auf der Agenda stehen. Wir haben uns jedoch zu lange darauf ausgeruht, dass es irgendwie ging. Durch den Kalten Krieg standen sich starre Systeme gegenüber, die ein relatives Gleichgewicht gewährleisteten. Neu nehme ich hingegen wahr, dass Demokratie als Gesellschafts- und Herrschaftsform stark bedroht ist. Das geht bis hinein in die persönlichen Lebensbereiche. Die Toleranz gegenüber Ambiguität lässt nach. Dies würde ich tatsächlich als Zeitenwende betrachten.
Prof. Dr. Friederike Herrmann: Wir müssen unterscheiden, welche Phänomene wirklich Ausdruck einer Zeitenwende sind. Über den Klimawandel diskutiert man schon seit Jahrzehnten. Auch die Digitalisierung der öffentlichen Kommunikation ist nicht neu. Der Krieg in der Ukraine ist jedoch für mich tatsächlich eine Zeitenwende. Ich bin zu Zeiten der Friedensbewegung in den 1980er-Jahren sozialisiert worden. Man hatte die Hoffnung, im Sinne von „Frieden schaffen ohne Waffen“ etwas bewegen zu können. Die Erschütterung durch den Ukraine-Krieg ist noch einmal durch den Krieg in Nahost verstärkt worden. Die Stimmung der Rat- und Hilflosigkeit lähmt – da gebe ich Herrn Danzer Recht. Was mir große Sorge macht, ist die öffentliche Debatte zu Migration und zu Antisemitismus, die meines Erachtens erheblich entgleist. Eine allgemeine Krisenstimmung der Überlastung greift Raum. Natürlich gibt es Schwierigkeiten, aber wir sind nach wie vor äußerst privilegiert im Weltvergleich, was in der öffentlichen Debatte keine Rolle mehr zu spielen scheint.
Herrn Behrens, blicken wir in den Bildungsbereich. Sie sind an einem Projekt beteiligt, das sich damit beschäftigt, wie Lehrkräfte in Berufsschulen adäquat mit Rechtsextremismus von Schülern umgehen können. Wo sind die Chancen und Grenzen von Schule für politische Bildung?
Prof. Dr. Rico Behrens: Die Grenzen liegen da, wo politische Bildung die Aufgaben von Politik übernehmen soll. Die Politik von konservativ über liberal bis links hat über viele Jahre versäumt, echte politische Lösungen für die Fragen von Zuwanderung, Asyl und Arbeitsmarkt zu entwickeln. In der politischen Bildung arbeiten wir in allen Schularten sowohl präventiv als auch reaktiv. Im Berufsschulbereich herrscht aber die größte Heterogenität. Hier ist der präventive Bereich sogar recht gut ausgebaut. Adressaten von politischer Bildung sind dabei zunächst Gruppen, die keine gefestigten antidemokratischen Positionen und Einstellungen aufweisen. Schwieriger wird es aber, wenn man auf konkrete Anlässe reagieren muss. Die Chancen, pädagogisch etwas zu erreichen, nehmen mit zunehmender Einbindung junger Menschen in antidemokratisch orientierte Cliquen ab. Dann geht es mitunter gar nicht mehr nur darum, den einzelnen Schüler oder die Schülerin noch positiv zu beeinflussen, sondern das System Schule an sich in der Waage zu halten. Also: Was ist mit anderen Schülerinnen und Schüler, die dem ausgesetzt sind, vielleicht sogar als direkt Angegriffene? In diesem Spannungsfeld ist unser Projekt angesiedelt, das primär Lehrkräfte stärken will. Auch Schulleitungen benötigen Unterstützung. Sie sind Gatekeeper für eine demokratische Schulkultur. Wir haben in den letzten Jahren gesehen, dass hier noch einiges an Verbesserungspotenzial schlummert. Damit muss sich der Fokus noch mehr zu Organisationsentwicklung und Professionalisierung verschieben.
Wenn man den offiziell beteuerten Stellenwert politischer Bildung und deren Ausstattung vergleicht, könnte man den Eindruck gewinnen, das ist ein klassisches Thema für Sonntagsreden.
Prof. Dr. Rico Behrens: Die demokratiebildende Funktion von Schule finden Sie in jedem Bildungsplan, noch vor fachlichen Kenntnissen. Faktisch bildet aber etwa Bayern das Schlusslicht im Hinblick auf die dafür zur Verfügung stehenden Unterrichtsstunden. Da bleibt wenig Raum, um ein aufwändigeres Planspiel durchzuführen, bei dem die Teilnehmenden zum Beispiel die Rolle von EU-Abgeordneten einnehmen und z.B. Migrationspolitik diskutieren. Ein weiteres neues zeitintensives Feld wäre der Bereich der sozialen Medien, in dem politische Informationen hoch emotional besetzt sind. Ein Großteil der politischen Informationen wird heutzutage über soziale Medien wahrgenommen. Herausfordernd für Politische Bildung, die nach dem Nationalsozialismus versucht hat, sich als strikt rational zu definieren. Ich hielte es für sinnvoll, Medienbildung und politische Bildung nicht isoliert, sondern integriert zu betrachten und anzubieten. Ich wünsche mir da noch stärker eine Übersetzungsleistung des Journalismus.
Frau Herrmann, Sie forschen an der Schnittstelle von Journalismus und Psychologie dazu, wie Desinformation und Affekte zusammenhängen. Welche Rolle kann Journalismus noch spielen angesichts der Relevanz sozialer Medien, die nur zu einem Bruchteil von Journalisten gefüttert werden?
Prof. Dr. Friederike Herrmann: Ich finde sehr spannend, dass Emotionen in der Politischen Bildung ein Thema werden. Alle Kommunikation ist natürlich mit Affekten unterlegt. Wir sind keine rationalen Wesen, das ist ein Wunschtraum. Tatsächlich haben auch die Kommunikationswissenschaft und der praktische Journalismus die Bedeutung der Affekte über Jahrzehnte ignoriert. Aktuell nehme ich eine Hilflosigkeit gegenüber affektgeladenem Geschehen in den sozialen Medien wahr, in der Kommunikationswissenschaft mag das auch damit zusammenhängen, dass die Affekte so lange ein blinder Fleck der Forschung waren. Wir versuchen nun Strategien im Community Management zu implementieren, die das affektive Geschehen beispielsweise auf Social Media aufgreifen und im besten Fall etwas entgiften können. Traditionell prüfen die Redaktionen Fakten, das ist wichtig und richtig, reicht aber als Reaktion auf affektgeladene Kommunikation nicht aus oder geht sogar am eigentlichen Problem vorbei. Das kann schnell belehrend und moralisierend wirken und dafür sorgen, dass sich die Affekte weiter hochschaukeln. Gerade in Krisensituationen sinkt die Ambiguitätstoleranz. Anknüpfend konkret an die Forderung von Herrn Behrens nach mehr Übersetzungsleistung des Journalismus: Journalismus ist traditionell bislang auf Kritik und Kontrolle eingestellt. Meiner Meinung nach ist die zukünftige Aufgabe der Medien, noch stärker konstruktiven Journalismus zu betreiben, der Perspektiven eröffnet und Impulse für Lösungen gibt, um diese in die Gesellschaft hineinzutragen.
Herr Danzer, auch in der Wirtschaft spielen Emotionen und Narrative eine große Rolle. Sie haben sich unter dem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit mit den Ursachen von Lebensmittelverschwendung beschäftigt. Ist Nachhaltigkeit ein Narrativ, das nur den Umsatz bei einer bestimmten Klientel ankurbeln soll oder für die Wirtschaft tatsächlich unabdingbar?
Prof. Dr. Alexander Danzer: Wir gehen – Frau Herrmann und Herr Behrens haben es angesprochen – meist immer noch davon aus, dass die Menschen rational sind. Aber das sind sie ja nicht in allen Situationen. Wir leben in Deutschland in einer weitgehend saturierten Gesellschaft, die alles hat und die sich weiter Güter und Dienstleistungen erfindet und ausdenkt. Und Konsumenten kaufen häufig ohne großes Hinterfragen. Der Konsum ist eine Hauptquelle der Klimakrise, wodurch man natürlich einige Produktinnovationen infrage stellen kann. Ich denke dennoch, dass Unternehmen eine starke Quelle von Innovationen für wichtige neue Produkte oder Produktionsprozesse sein können. Nachhaltigkeit ist insofern kein Marketinggag, um Bedürfnisse zu wecken. Ein Großteil unserer heute selbstverständlichen Errungenschaften sind durch Unternehmen entstanden, die damit Geld verdienen wollten. Man darf also die wirtschaftlichen Anreize, natürlich neben Besteuerung und einer gerechte Verteilung, nicht aus dem Blick verlieren. Denn wahr ist auch: Private Konsumenten können sich gar nicht so sehr einschränken, wie eine vom Staat womöglich subventionierte Stahlindustrie an CO2 emittiert. Innovation kann über Anreize, Subventionen oder Regulierung erreicht werden. Hier ist die Politik tatsächlich in der Verantwortung. Und diese wird, scheint mir, eher verschleiert und abgeschoben.
Wie kann man Regulierung und Innovation zusammenbringen?
Prof. Dr. Alexander Danzer: Ich glaube, dass es, neben den klugen Köpfen in Forschungsabteilungen, viel am Mindset liegt. Wir müssen den Blick weiten und Kompetenzen vermitteln, die vor kurzem noch nicht nachgefragt waren. Vor 30 Jahren hat niemand Change-Management betrieben. Die Veränderung ist das, was die heutigen Absolventinnen und Absolventen werden managen müssen. Unternehmen stehen heute mehr denn je vor der Herausforderung, sich auf eine unsichere Zukunft einzustellen.
In die Runde gefragt: Welche Rolle hat Wissenschaft für den Wandel? Es klang ja an, dass manche Erkenntnis seit langer Zeit vorhanden ist, aber nicht genutzt wird.
Prof. Dr. Friederike Herrmann: Im Digitalen muss der Journalismus auf neue Weise den öffentlichen Diskurs moderieren und überhaupt erst einen zivilisierten Austausch ermöglichen und Themen bereitstellen. Eine Rolle der Kommunikationswissenschaft im Bereich der Transferforschung kann es sein, dies als demokratietheoretisch begründete Aufgabe einzufordern, die Wirkungen zu untersuchen und auch in begleitender Forschung Konzepte für diese Aufgabe der Praxis zu entwickeln. Unsere Kooperationspartner etwa im Community Management, also diejenigen, die journalistisch im Bereich Social Media arbeiten, sagen ganz klar: „Wir brauchen dafür die Wissenschaft!“ Natürlich ist Journalismus nur ein Teil der Social Media Kommunikation – aber wenn es gelingt, dort einen konstruktiveren Diskurs zu etablieren, kann das auch nach außen wirken.
Prof. Dr. Rico Behrens: Wir brauchen im politischen Willensbildungsprozess eine Revitalisierung der Partizipation unterhalb der Verbände, Parteien und organisierten Interessen – Stichwort Deliberation, also das öffentliche gemeinsame Nachdenken über gute Lösungen. Dazu gibt es erste Versuche, etwa den „Bürgerrat Ernährung“ auf Bundesebene. Aus Sicht der Wissenschaft stehen wir bei der Frage, wie solche Prozesse organisiert sein müssen, um wirksam werden zu können, noch am Anfang. Das wäre für mich ein wichtiges Feld, wo Wissenschaft an der Transformationsfähigkeit demokratischer Verfahren mitarbeiten kann.
Prof. Dr. Alexander Danzer: Ich bin unentschieden, ob es gut oder schlecht ist, wenn die Wissenschaft den gleichen Stellenwert hat wie eine Lobbygruppe. Es geht nicht darum, dass sich Wissenschaft immer durchsetzen soll, denn auch Wissenschaft ist fehlbar und Wissen ist nur vorläufig. Vor diesem Hintergrund wünsche ich mir, dass Politik manchmal ein bisschen mutiger ist. Dass man auch zulässt, erst einmal nur in einer bestimmten Region etwas auszuprobieren. Die Erfahrung zeigt, dass in Ländern, die experimentierfreudiger sind, auch das Verständnis der Bevölkerung größer ist. Stellen Sie sich vor, Sie sind Kultusminister und haben 100 Millionen Euro zur Verfügung. Werden sie hundert Projekte mit jeweils einer Million Euro ausstatten oder nur zwei, drei besonders wirkungsvolle damit finanzieren? Dazu muss man natürlich wissen: Was heißt wirkungsvoll? Und was ist das Ziel von Politik? Da schließt auch die Frage des Transfers an: Wie gut können Politiker und Wissenschaftler kommunizieren und ihre Themen in die Gesellschaft tragen? Für die Wissenschaft als System braucht es zudem eine adäquate Ausstattung, um die Generationen heranziehen zu können, die diese ganzen Herausforderungen lösen.