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Konflikte verstehen, Kommunikation verbessern

Das KOKO-Team an der KU
© upd/Hemmelmann

Die Debatten werden aggressiver, die Konflikte schärfer, das gesellschaftliche Klima rauer und eine Polarisierung der Gesellschaft reeller. Was sind die Ursachen für diese Entwicklungen? Und vor allem: Wie kann man ihnen entgegentreten? Wie lassen sich demokratische Strukturen stärken und Diskurse konstruktiver führen? Antworten auf diese dringlichen Fragen sucht aktuell ein Team von Forschenden aus der Journalistik und der Psychologie an der KU.

Federführend sind dabei Prof. Dr. Annika Sehl, Inhaberin des Lehrstuhls für Journalistik mit dem Schwerpunkt Medienstrukturen und Gesellschaft, und Prof. Dr. Elisabeth Kals, Professorin für Sozial- und Organisationspsychologie. Ihre Arbeit ist eingebettet in das interdisziplinäre Forschungsprojekt „KOKO. Konflikt und Kommunikation“, in dem Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Bereiche Psychologie, Journalistik und politische Soziologie der Universität der Bundeswehr München (UniBwM) und der KU kooperieren (siehe Infokasten). Geleitet wird KOKO von Prof. Dr. Jürgen Maes und Dr. Mathias Jaudas von der UniBwM.

Im Zentrum steht eine Analyse der Eskalations- und Deeskalationsdynamiken von Konflikten auf persönlicher, gesellschaftlicher und medialer Ebene. Auf Basis einer repräsentativen Befragung von 7000 Teilnehmenden entsteht ein Konflikt-Index, der aufzeigt, wer wie mit wem worüber warum in Konflikt steht, und welche Rolle Medien und politische Themen dabei spielen. Von Interesse ist insbesondere das Zusammenspiel von individuellem Erleben (Psychologie), Eigenschaften gesellschaftlicher Systeme und politischer Rahmenbedingungen (politische Soziologie) sowie von Medienlogiken und Rezeptionsdynamiken (Journalistik). Zur Betrachtung wählte das interdisziplinäre Forschungsteam gezielt polarisierende Themen wie Migration, Klimaschutz, Gleichstellung und Sozialleistungen aus, die im Kern die Verteilung von finanziellen Ressourcen, Rechten, Pflichten und Anerkennung betreffen.

Protest
© Adobe

Wie streitet Deutschland? Soziale Konflikte verstehen

Die psychologische Perspektive auf die Analyse von Konflikten setzt beim Individuum an. KU-Professorin Elisabeth Kals und ihr Team untersuchen Entstehung und Konsequenzen von Konflikten im zwischenmenschlichen Kontakt. „Den Kern von Konflikten macht in den meisten Fällen das Erleben von Ungerechtigkeit aus – und das ist subjektiv“, erklärt Kals. „Gerechtigkeit ist im Plural zu denken. Wir haben nicht die eine Gerechtigkeit, sondern je nach Perspektive ändert sie sich.“ Entsprechend fühlen sich in Konflikten meist alle Beteiligten ungerecht behandelt. Mächtig sei insbesondere der emotionale Kern dieses Erlebens, betont Kals. Sie sieht hier die Wurzel für das weit verbreitete Gefühl der Empörung: „Immer, wenn sich jemand empört, sind Kränkungen, Verletzungen von Normen und Ansprüchen und eben erlebte Ungerechtigkeit im Spiel.“

Kals Eichstätter Kollegin Annika Sehl beleuchtet mit ihrem Journalistik-Team – in Kooperation mit Journalistik-Professorin Sonja Kretzschmar (UniBwM) und deren Team – wie Medien zur Wahrnehmung und Austragung von gesellschaftlichen Konflikten beitragen. Hierfür untersuchen sie, welche Nachrichtenmedien die Befragten nutzen, und wie sie zu diesen Medien stehen. Ein besonderes Augenmerk liegt zudem auf den Dynamiken, die sich bei der Entstehung und Austragung von Konflikten auf Social-Media-Plattformen abspielen. Welche Personen tragen hier Konflikte aus? Und mit welchem Ziel? Die beobachteten Nutzungsmuster und Einstellungen werden auch in Bezug zum persönlichen Konflikthandeln gesetzt, um eine inhaltliche Brücke zur Psychologie und zur politischen Soziologie zu schlagen. 

Konfliktkompetenz stärken – friedliches Zusammenleben aktiv gestalten

Der Titel des Gesamtprojekts KOKO steht für „Konflikte verstehen und Kompetenzen vermitteln“. Entsprechend legt das Team nicht nur Wert auf die multiperspektivische Analyse von Konfliktdynamiken, sondern insbesondere auf den Transfer der Forschungserkenntnisse. Diese sollen gezielt für die breite Bevölkerung zugänglich gemacht und für Stakeholder aus Bildung, Medien und Politik in Interventionsstrategien für einen kooperativen Umgang mit sozialen Konflikten übersetzt werden.

Screenshots Hatespeech auf der Plattform X
In sozialen Medien, wie hier auf der Plattform "X", sieht sich Journalismus häufig mit Hatespeech konfrontiert.

Journalistik-Professorin Annika Sehl und ihre Mitarbeiterin Rebecca Strohmeier konzipierten, in Kooperation mit der Journalistik der UniBwM, in diesem Kontext zwei Teilstudien. In der ersten befassten sich die Forscherinnen damit, wie gesellschaftliche Polarisierungstendenzen die journalistische Arbeit beeinflussen. Dazu führten sie Leitfadeninterviews mit Redakteurinnen und Redakteuren sowie Social-Media-Verantwortlichen aus deutschen Nachrichtenredaktionen. Im Ergebnis zeigt sich ein besorgniserregendes Bild, schildert Annika Sehl. In den vergangenen Jahren würden Journalistinnen und Journalisten infolge ihrer Berichterstattung immer öfter angefeindet oder sogar angegriffen. „Gerade, wenn es um gesellschaftliche Konfliktthemen wie Migration, Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine, den Nahostkonflikt oder gendersensible Sprache geht, stehen Beleidigungen, Gewalt- oder sogar Morddrohungen auf der Tagesordnung – und zwar sowohl im Digitalen als auch draußen, auf offener Straße.“ Vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Entwicklung seien zudem die Anforderungen an die Recherche und Veröffentlichung von Beiträgen immens gestiegen. Gleiches gelte für das Community Management, also die Betreuung und Moderation von Themen nach der Veröffentlichung v. a. in den sozialen Medien.

Die Studie zeigt auch, dass Redaktionen ihre Workflows und Publikationsstrategien mittlerweile angepasst haben, um mögliche Eskalationen gerade auf Social-Media-Plattformen einzudämmen. Medienorganisationen haben zudem Unterstützungs- und Schutzmaßnahmen erarbeitet, um ihr Personal im Umgang mit Angriffen zu schulen und vor Schlimmerem zu beschützen. Solche individuellen und redaktionellen Strategien seien immens wichtig, um Journalismus frei von Druck im demokratischen Sinn betreiben zu können, sagt Sehl. Sie betont aber auch: „Es bedarf ebenso politischer Unterstützung, beispielsweise bei der Plattformregulierung, und eines gesellschaftlichen Umdenkens, wie wir miteinander kommunizieren und umgehen wollen.“ Aus den gewonnenen Erkenntnissen werden Leitlinien für die journalistische Praxis erarbeitet, die in Workshops an Nachrichtenredaktionen und Medienorganisationen weitergegeben werden sollen.

Das Potenzial der Medien nutzen

In der zweiten Teilstudie beschäftigt sich das Journalistik-Team aktuell damit, wie Berichterstattung über gesellschaftliche Konfliktthemen idealerweise gestaltet sein sollte, um Polarisierungstendenzen entgegenzuwirken. Die Forscherinnen entwickelten dazu ein Experiment mit mehr als 2500 Personen, für das sie Beiträge erstellten, die den Anforderungen des Konzepts des „Diskursiven Journalismus“ entsprechen. Diskursiver Journalismus bemüht sich bewusst um eine multiperspektivische und kontextualisierende Berichterstattung, um Offenheit für andere Meinungen und wechselseitiges Verständnis zu fördern. Erste Ergebnisse erwarten die Forscherinnen in den kommenden Wochen.

Das Potenzial von Medien, um Konfliktkompetenzen in der Bevölkerung zu stärken, steht auch im Mittelpunkt des Teilprojekts des Teams um Prof. Dr. Jürgen Maes und Dr. Mathias Jaudas von der UniBwM. Sie begeben sich regelmäßig, zuletzt diesen Sommer, auf „Streitkultour“ quer durch Deutschlands Fußgängerzonen. In einem Aufnahmetruck können Menschen von ihren Konflikten über Alltagsthemen oder politische Streitfragen berichten. Diese Interviews ergänzen zwei Psychologen des Teams im Nachhinein um konfliktpsychologische Erkenntnisse und konkrete Handlungsempfehlungen. So entstehen Videos im Edutainment-Stil, die seit Anfang 2023 über YouTube, TikTok und Instagram verbreitet werden. Ziel ist es, Anregungen für den eigenen Umgang mit Konflikten zu vermitteln.

Screenshot "Streitkultour" auf Youtube
Screenshot aus dem Kanal "Streitkultour" auf Youtube

Ob dieses Ziel erreicht wird, evaluierte die Eichstätter Psychologie-Professorin Elisabeth Kals mit ihren Mitarbeitenden Martina Grunenberg, Adrian Landwehr und Dr. Svenja Schütt. Sie ließen mehr als 2000 Personen über einen Zeitraum von 15 Wochen regelmäßig ein „Streitkultour“-Video ansehen und in einem Online-Fragebogen über ihre konfliktbezogenen Ansichten und Verhaltensweisen Auskunft geben. Das Ergebnis dieser umfangreichen Untersuchung bringt Kals schnell auf den Punkt: „KOKO wirkt!“ Das Schauen der Videos stärke das Wissen über Entstehung und Lösung von Konflikten und fördere Verhaltensweisen, die Konflikten vorbeugen oder sie deeskalieren. „Die Befunde zeigen, dass ein konstruktiver Umgang mit Konflikten durch eine niedrigschwellige Intervention wie Onlinevideos gefördert werden kann“, sagt Elisabeth Kals.

Dies unterstreiche, warum eine Kooperation der Disziplinen Journalistik und Psychologie so sinnvoll sei: „Die Psychologie hat die Erkenntnis, wie der Mensch in Konflikten reagiert und auch, wie sich Wege aus Konflikten heraus finden lassen. Aber der Journalismus ist fähig, diese Informationen über den eigenen Nahbereich hinaus zu transportieren.“ Angesichts größter gesellschaftspolitischer Herausforderungen sei es umso dringlicher, das Wissen der Psychologie in die Breite zu vermitteln. Wie sich Konfliktkompetenzen nachhaltig vermitteln lassen, dazu soll KOKO auch in den kommenden Jahren weitere Erkenntnisse liefern.

Informationen zum Projekt

Das Forschungsprojekt „KOKO. Konflikt und Kommunikation“ ist an der Universität der Bundeswehr München (UniBwM) angesiedelt und läuft seit 2021. Es wird durch dtec.bw, das Zentrum für Digitalisierungs- und Technologieforschung der Bundeswehr, gefördert, welches wiederum von der Europäischen Union – NextGenerationEU finanziert wird. Die Projektleitung liegt bei Prof. Dr. Jürgen Maes und Dr. Mathias Jaudas von der Professur für Sozial- und Konfliktpsychologie der UniBwM. Weitere Beteiligte sind Prof. Dr. Stephan Stetter, Professur für Internationale Politik- und Konfliktforschung, sowie Prof. Dr. Sonja Kretzschmar, Professur für Innovationen im Journalismus, von der UniBwM. Es besteht zudem eine Kooperation mit der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt (KU), in Person von Prof. Dr. Annika Sehl, Inhaberin des Lehrstuhls für Journalistik mit dem Schwerpunkt Medienstrukturen und Gesellschaft, und Prof. Dr. Elisabeth Kals, Professur für Sozial- und Organisationspsychologie. Weitere Informationen zum Projekt KOKO finden sich hier, näheres zur „Streitkultour“ gibt es hier.