Das Projekt

Bootssteg
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Der Befund ist, in historischer Hinsicht, überaus mächtig: Die abendländische Kulturgeschichte hat sich durchgehend, von der Antike bis zur Gegenwart, an Unendlichkeitsvorstellungen ausgerichtet. Man darf sie geradezu als eine fundamentale Konstante ihrer Identitätsbildung bezeichnen. Dem steht der bemerkenswerte andere Befund gegenüber, dass sie, nimmt man die Philosophie aus, ihrer Bedeutung entsprechend bisher kaum systematisch zusammengesehen, allenfalls partikulär ver-anschlagt wurden. Dies scheint umso gebotener zu sein, weil sie so gut wie allen menschlichen Denk- und Tätigkeitsbereichen einen letzten Horizont setzen; und sofern diese Gegenstand fachlicher, wissenschaftlicher, philosophischer Reflexion werden, bestimmen sie zugleich die Grenzen und Lizenzen ihrer ‚Definition’. Gleichwohl lässt sich annehmen, dass sie ineins damit Konstrukte entwerfen, um sich ein Bild von dem zu machen, was ‚jenseits’ – spekulativ, transzendent, utopisch –ihrer endlichen Wissensformate anzuberaumen wäre.

Eine historische Wendezeit in der Konzeption des Unendlichen fällt in die Spätantike. Das Neue Testament und die Patristik deuten die antike Abwertung um in ein Gottesprädikat. Von da an wird es zu einem bestimmenden Merkmal der Wissens- und Theoriebildung. Das jeweils Erkannte als das ge-danklich Eingegrenzte wirft dann die gegenläufige Frage nach dem Unbegrenzten als dem unendlich Vorgängigen und Umgebenden auf. Der Mensch erscheint eingelassen in unendliche Größenord-nungen wie Gott, Kosmos, Welt, Zeit, Raum, Geschichte, Schicksal. Im Rahmen seiner Selbstsorge muß er ein Interesse daran haben, die Gewissheit seiner Endlichkeit mit der Ungewissheit der ihn erwartenden Unendlichkeit (des Todes) abzugleichen. Zahlreiche Entwürfe auf allen Gebieten zeugen davon. Wie stellt er sich ein Leben – oder auch nicht – nach dem Tode vor? Jenseitsvisionen, Himmelsräume, Paradiese, Gärten Eden, Goldene Zeitalter, Apokalypsen, Nihilismen am Anfang und Ende aller Zeiten malt er sich vertikal und horizontal als kontrafaktische Projektionen des Un-endlichen aus, die die bedrängenden Erfahrungen seiner Endlichkeit in einer ewig währenden Prä-senz aufheben. Dazu zählen nicht minder Staats- und Gesellschaftsutopien. Sie gründen im schöpferischen Selbstverständnis des Menschen. Sie leiten aus dem Prozeß der Zivilisation die Idee einer unabsehbaren Perfektibilität des Menschengeschlechts ab, die in der Aufklärung und der Fortschrittsideologie des 19. Jahrhunderts zur Weltanschauung avancieren konnte. Insgeheim stand hinter ihnen die Idee eines in unbestimmbarer Zukunftsferne aus sich selbst zu erzeugenden neuen Menschen. Auf seiner Rückseite aber konnte zugleich die Hybris von Weltherrschafts- und Allmachtsphantasien, Totalitarismen, Tausendjährigen Reichen und Geschichtsteleologien bis hin zur Entgrenzung der menschlichen Natur im Übermenschen als einem evolutionären Gattungsziel gedeihen – mit allen damit ein-hergehenden Phantasmen von Endlösungen.

Hinzu kommen leibnähere Wunschbilder, die, vom menschlichen Mängelwesen ausgehend, sich mythische Figuren unbegrenzter Bedürfniserfüllung, des Einsseins mit sich selbst, nicht enden wollendes Glücks ausmalen. Naturräume wie Arkadien stellen sich Liebesparadiese vor, Inseln der Seli-gen als wunschlose Gegenorte zum Tal der Tränen, Schlaraffenlande etc. Als im 19.Jahrhundert schließlich himmlische wie irdische Transzendenzen zu schwinden begannen, spielten Chiffren wie die Blaue Blume, der Azur, das Infinito, das Non-Finitum der Bildenden Kunst auf die Grenzenlosigkeit eines Himmels ästhetisch an. Andererseits tat sich seit der Spätaufklärung (z.B. Sade) und der Unendliches Romantik ein abgründiger, aber zukunftsweisender Ort von Unendlichkeit auf: das menschliche Tiefenbewußtsein. So hoch seine Wirksamkeit veranschlagt wurde (Freud, Surrealismus, Neurologie), so sehr blieb seine Energetik eine dunkle, ja dämonische Macht, die sich jeder kulturellen Eingrenzung entzog.

Diese und andere Fälle, die Unendlichkeit auf je eigene Art – positiv oder negativ – thematisieren,deuten auf einen grundlegenden anthropologischen Zusammenhang: auf ein archaisches menschliches Bedürfnis, von den Grenzen des Erfahrbaren aus ein Unbegrenztes und in diesem Sinn eine unbegrenzte, unendliche bzw. unabsehbare Einlassung des Lebens zu projektieren. Verbunden da-mit ist allerdings eine höchst produktive Paradoxie: eine unendliche Vorstellung ist, im Hinblick auf das endliche Erkenntnisvermögen des Menschen, unvorstellbar. Sie sich dennoch anzueignen, wirft ein gravierendes semiotisches Problem auf: Verlangt sind Poetiken des Unendlichen, die das Un-fassbare in sinnliche Fassbarkeit ‚übersetzen’. Dies aber fällt wesentlich ins Vermögen der Imagina-tion. In ihrem Sinne darf man von einem Imaginarium des Unendlichen sprechen, das den Gang der Kultur eskortiert. Wo es religiös aufgefasst wird, versinnbildlicht es sich in Kultorten, Opferstätten, Tempelbauten, Kathedralräumen. Sie verdinglichen sich mithin an Orten, an denen Rituale, Zeremo-nien, Prozessionen, Feste u.ä. sich anhand von symbolischen Zeichen und Bewegungen beschwö-ren lassen, gemäß der Einsicht, dass wir die Zeit – und Zeitlosigkeit – nur im Raume erfahrbar machen können. Zu erwägen wären darüber hinaus negative Konfigurationen, die zwar nicht für Unendlichkeit selbst stehen, sich aber immerhin gegen Vergänglichkeit, gegen Vergessen und damit gegen Endlichkeit in Position bringen: Friedhöfe, Wallfahrtsorte, Gedenkstätten, archäologische Fundstät-ten, Museen. Gehört in diesen Zusammenhang aber nicht auch die science fiction, die das weite Feld zwischen prometheischen Machbarkeits- oder Vollendungsvisionen und apokalyptischen Be-drohungsszenarien in imaginärer Vorwegnahme bearbeitet? Wäre dazu nicht auch die verdeckt kursierende Realutopie zu rechnen, dass der Tod nur eine Krankheit und nur vorläufig noch nicht heibar ist?

Konzepte und Konfigurationen des Unendlichen bilden sogesehen nicht nur einen festen Bestandteil des europäischen Kulturverständnisses: Sie sind eine seiner erstrangigen Kulturleistungen, wie im-mer man sie bewerten mag. Sie perspektivieren elementar europäisches Denken und Handeln und sind insofern eine identitätsstiftende Gemeinsamkeit, die hohe wissenschaftliche Aufmerksamkeit verdient.

Der Forschungsschwerpunkt wurde 2014 unter dem Titel Unendlichkeitskonstrukte. Eine europäi-sche Kulturkonstantedurch die Initiative von Prof. Dr. Gerhard Zimmer und Prof. Dr. Winfried Wehle inauguriert. In einer ersten Phase von 2014-2017 wurde die Fragestellung über eine Ringvorlesung, einen Workshop, eine Tagung, zwei Symposien und mehrere interne Kolloquien interdisziplinär aus-gearbeitet. In der Folge der Tagung Infinitum (April 2017) hat sich der Forschungsschwerpunkt dann unter dem Titel Konzepte und Konfigurationen des Unendlichenneu konstituiert.

In der Konstitutionsphase des Schwerpunkts hat sich eine Reihe von Fragen ergeben, die die weitere Arbeit orientieren sollen.

● Aus welchen Bedürfnissen heraus werden Konzeptualisierungen des Unendlichen motiviert? Aus welchen Anlässen heraus werden sie artikuliert? Welche gesellschaftlichen Funktionen erfüllen sie?

● In den Konzepten des Unendlichen konstituieren sich Unendliches und Endliches wechselseitig. Das Endliche wird aufs Unendliche hin überschritten, aber diese Überschreitung kann nur über den Rückgriff aufs Endliche artikuliert und kommuniziert werden. Welche Formen hat dieses Wechsel-verhältnis historisch angenommen?

● Die Undarstellbarkeit des Unendlichen begleitet seine Artikulation und seine Performanz als ein ständiges Diskursproblem. Dessen Lösung wird einerseits über eine Raumsemantik (kreisende Zeit ritueller Wiederholung, linearer Mysterienweg, Aufstieg der Erkenntnis, Umkreisen des Unsagbaren etc.), andererseits durch eine Expansion ins Innerliche versucht. Welche Metaphern, intellektuellenStrategien und poetischen Formen sind eingesetzt worden, um in der Artikulation oder Performanz des Unendlichen die Aporie seiner Unsagbarkeit mitzuführen?

● In Konkurrenz zur religiösen Transzendenz des Mittelalters hat die Neuzeit zunächst Konzeptionen von einer Unendlichkeit der Fülle entwickelt. Im weiteren Verlauf gewannen dann aber zusehends Konzepte einer unendlichen Kontingenz an Einfluss. Welche Analogien und welche Differenzen bringt die Konzeptualisierung dieser unterschiedlichen Unendlichkeiten hervor?

● Das Wechselverhältnis zwischen Unendlichem und Endlichem erzeugt nicht nur Probleme der Artikulation oder Performanz, sondern auch Probleme der Koexistenz unter den Herausforderungen des konkreten Lebens. Sollen die Ansprüche des Unendlichen gegen die des Endlichen radikal durchgesetzt werden oder werden die beidseitigen Ansprüche durch zeitliche Rhythmisierung, existentielles Nebeneinander oder andere Muster zu Kohabitation oder Kooperation geführt? Welche politischen, moralischen, kulturellen Muster des Gegen-, Neben- und Miteinander haben sich historisch ausgebildet?