Sonia Atlantova / Oleksandr Klymenko: „Ikonen auf Munitionskisten. Die Kunst, den Tod ins Leben zu verwandeln“

von Philipp Endres

#BuchdesMonats #Ukraine #Ikonen

Das Kunstprojekt „Ikonen auf Munitionskisten“ erzählt von der Sehnsucht nach Frieden: Sonia Atlantova und Oleksandr Klymenko sammeln Munitionskisten von der Frontlinie der Ostukraine und bemalen sie im Stil der östlich-christlichen Kunst. Die einfachen Kisten tragen Seriennummern von Waffen und Spuren des Kriegs. Doch die Kunst der Ikonenmalerei verwandelt sie: Die Werke werden zu Symbolen des Friedens und zu Zeugnissen des unerschütterlichen Glaubens an das ewige Leben.

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Zwei Ikonen – beide zeigen das Christusbild von Edessa. Doch ihre Bildträger irritieren: Die eine Ikone wurde auf Holzbretter eines Kanonenwagens geschrieben, die andere auf den Deckel einer Munitionskiste. Das Heilige in direkter Berührung mit der Materialität des Krieges? Diese Irritation verstärkt sich noch, wenn man das Setting betrachtet:

Mandylion
Mandylion in der Hauptkirche der russischen Streitkräfte; Bildquelle: https://мультимедиа.минобороны.рф/multimedia/photo/gallery.htm?id=67427@cmsPhotoGallery

Eine der Ikonen bildet das zentrale Heiligtum der Hauptkirche der russischen Streitkräfte – des viertgrößten Kirchenbaus Russlands, errichtet 2020 zum 75. Tag des Sieges. Dieser monumentale Bau ist ein einziges Manifest russischer Hybris, getränkt vom propagandistischen Pathos der Kriegstreiber. Besonders eindrücklich demonstrierten dies die ursprünglich angebrachten Wandmosaike, die Wladimir Putin und Josef Stalin in triumphalistischer Pose zeigten: Putin im Zusammenhang mit der Annexion der Krim, Stalin bei der Siegesparade von 1945 vor der Basiliuskathedrale. Doch der öffentliche Druck war zu groß – die Mosaike wurden noch vor der Eröffnung der Kirche entfernt.

Einweihung
Einweihung der Hauptkirche der russischen Streitkräfte (2020); Bildquelle: https://мультимедиа.минобороны.рф/multimedia/photo/gallery.htm?id=77295@cmsPhotoGallery

Im Zentrum dieses Sakralbaus steht die besagte Ikone des Abgar-Bildes. Sie wurde auf Holzbrettern geschrieben, die einst Teil eines Kanonenwagens einer 8-Pfünder-Gusseisenkanone aus dem Jahr 1710 waren – geborgen aus dem Boden der Newa. Auf der Rückseite sind sie mit einem Tokarew SWT-40 befestigt. Das Mandylion ist umgeben von Darstellungen der Muttergottes von Kasan, Wladimir, Smolensk und Tichwin, die in künstlerischen Reliefs bedeutende Ereignisse der russischen Geschichte illustrieren. Zusätzlich wird die Ikone durch Reliquien russischer Schutzpatrone sakral aufgeladen. Ihr erster Ausstellungsort war die Wladimirkathedrale in Chersones auf der Krim, dem Ort, mit dem traditionell die Taufe der Rus verbunden wird, wodurch die Ikone in unmittelbarem Zusammenhang mit der russischen Aggression gegen die Ukraine steht.

Entsprechend ist die Botschaft dieser Ikone – und der gesamten Kirche –unverkennbar: Der russische Militarismus wird sakral verklärt, sein totalitärer Anspruch im Sinne von Putins Russkiy mir (Russische Welt) spirituell überhöht. Hier spricht die Logik des Krieges und der Aggression unter der Gebärde der Religion.

Mandylion
Christusbild von Edessa (2015) von Oleksandr Klymenko; Bildquelle: https://www.englishcathedrals.co.uk/latest-news/icons-on-ammo-boxes-guildford-cathedral/

Eine völlig andere Botschaft vermittelt die zweite Ikone. Sie stammt von dem ukrainischen Künstlerpaar Oleksandr Klymenko (*1976 in Kyjiw) und Sonia Atlantova (*1981 in Kyjiw), die seit Beginn der russischen Aggression gegen die Ukraine im Frühjahr 2014 byzantinische Ikonen auf die Überreste von Munitionskisten schreiben. Die Idee zu diesem Kunstprojekt kam ihnen bei einem Besuch eines Militärstützpunktes, als ihnen die frappierende Ähnlichkeit zwischen dem Deckel einer Munitionskiste und den Platten auffiel, auf die traditionell Ikonen geschrieben werden. Doch diese Ähnlichkeit birgt eine grundlegende Gegensätzlichkeit, eine unüberbrückbare typologische Differenz: „Die eine Schwester eine Prinzessin, die andere eine Bettlerin…“ (Atlantova/Klymenko 2024, 33).

Es ist die Antinomie von Leben und Tod, Krieg und Frieden, die sich den Künstlern hier offenbarte. Sie erkannten die performative Kraft, die in dieser Spannung lag. Kurz darauf schrieb Klymenko eine Ikone der Gottesmutter auf den Deckel einer Munitionskiste – und ein Prozess der Transformation begann, den er so beschreibt: „Die Bettlerin wurde nicht zur Prinzessin mit rosa lackierten Nägeln und goldenen Locken. Nein, eine weise und erfahrene Königin hat das Licht der Welt erblickt – eine Königin, die nicht nur einen festlichen Ball eröffnen, sondern auch in einen dreckigen Schützengraben hinabsteigen kann.“ (ebd.)

Es ist die Transformation vom Tod zum Leben, vom Krieg zum Frieden, die das künstlerische Schaffen von Klymenko und Atlantova seither bestimmt. Ihr Ziel: Hoffnung schenken – aber keine trügerische Hoffnung, die über die Realität hinwegtäuscht, sondern eine Hoffnung gegen den Schein. Eine Hoffnung, die zum Durchhalten ermutigt – selbst unter widrigsten Umständen, selbst entgegen scheinbar guten Gegengründen. Jede ihrer Ikonen ist – wie sie es selbst beschreiben – so ein „Palimpsest eigener Art aus existenziellen – und nicht nur rein menschlichen – Erfahrungen“ (ebd. 36).

Im Laufe der Jahre, inmitten der fortwährenden Realität des Krieges, ist ein vielschichtiges Konvolut von Ikonen entstanden – Werke ganz unterschiedlicher Art, die seit 2015 auf internationalen Ausstellungen zu sehen sind. Doch das Projekt bleibt unvollendet, sein offenes Ende ein trauriges Zeichen der andauernden Gewalt. Das Gesamtwerk lebt vom Dialog zwischen Material und Motiv, eine Spannung, die den Ikonen eine einzigartige Dynamik verleiht und in der Gesamtschau zugleich die Eskalation des Krieges dokumentiert und nachzeichnet.

Molino
Bildquelle: https://molino-verlag.de/product/ikonen-auf-munitionskisten/

Im vergangenen September publizierten Oleksandr Klymenko und Sonia Atlantova einen kommentierten Ausstellungskatalog mit dem Titel Ikonen auf Munitionskisten, veröffentlicht im Molino-Verlag. Im Mittelpunkt stehen ihre Werke, begleitet von kurzen Beschreibungen der jeweiligen Zyklen. Ein Vorwort von Katrin Göring-Eckardt, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, sowie eine Einleitung von Prof. Dr. Regina Elsner (Münster), Dr. Agnes Slunitschek (Würzburg) und Stefan Kube (Zürich) runden das Buch ab. Besonders hervorzuheben ist die doppelte Intention des Buches: Es versteht sich nicht nur als theologische Reflexion, sondern auch als humanitäres Projekt. Sämtliche Einnahmen fließen in sozial-medizinische Hilfsprojekte in der Ukraine, die verwundete Soldaten unterstützen und am Ende des Buches vorgestellt werden.

Für mich entfaltet dieses Projekt – das über reines Kunstschaffen hinausgeht und selbst zur Gebärde der Hoffnung wird – seine eigentliche Pointe gerade in der oben skizzierten Gegenüberstellung. Zwei Ikonen, dasselbe Motiv, ein Bildträger aus ähnlichem Kontext – und doch könnten ihre Botschaften nicht unterschiedlicher sein: Die eine folgt der Logik des Krieges, die andere der des Friedens. Beide stehen in Verbindung mit einem Krieg, in dem Religion eine so prägende Rolle spielt wie wohl zuletzt während des Dreißigjährigen Krieges. Tatsächlich ist der Bezug zur Realität des Kriegs in beiden Fällen ganz materiell: Der Kanonenwagen, auf dessen Bretter das Abgarbild in der Hauptkirche der russischen Streitkräfte geschrieben wurde, und die russischen Gewehre, die an seiner Rückseite angebracht sind, haben ihren Zweck erfüllt – sie haben Russland den Sieg gebracht. In der ideologischen Überformung dieser historischen Faktizität wurden sie zu einem symbolischen Beweis göttlicher Vorsehung, nach der Russland in einem eschatologischen Sinne als letzter Bastion der Rechtgläubigkeit der göttliche Sieg verheißen ist.

Auch die Munitionskisten auf ukrainischer Seite haben ihren Zweck erfüllt. Ihr Inhalt wurde verschossen, hat die intendierte Zerstörung angerichtet, Leben vernichtet. Zurück blieben leere Kisten – Abfallprodukte des Krieges. Doch die bleibende Realität der Gewalt lässt sich nicht triumphal verklären; Diese Kisten sind keine Trophäen, sondern bleiben Symbole einer andauernden Aggression. Hier geht es nicht um die Transformation von Krieg in Sieg, sondern darum, die Faktizität des Gegebenen von innen heraus durch die Performativität des Heiligen zu verwandeln. Inkarnation meint nicht Triumphalismus – sie ist Erniedrigung bis an den Nullpunkt.

Über die materielle Verbindung zum Kriegsgeschehen hinaus besteht auch eine personale: Während es Putin war, der die Mittel für die Anfertigung der prunkvollen Ikone in der Hauptkirche der russischen Streitkräfte stiftete, bezeichnen Klymenko und Atlantova die Soldaten an der Front als Mitwirkende ihres Projekts. Sie sind es, die den Künstlern die Munitionskisten bringen. Hier offenbart sich eine unüberbrückbare Kluft zwischen dem Kriegstreiber und den Getriebenen. Der eine legitimiert und verklärt seinen imperialistischen Anspruch, instrumentalisiert die religiöse Symbolik als propagandistisches Mittel, um die Realität des Krieges hinter dem Schleier einer Siegesmentalität zu verbergen. Die anderen hingegen versuchen, genau diese Realität ans Licht zu bringen. Während der kriegsgezeichnete Bildträger der russischen Ikone durch eine goldene Metallabdeckung überhöht und verhüllt wird, legen die ukrainischen Ikonen gerade die Rohheit des Materials offen: Spalten im Holz, Farbflecken, eingestanzte Seriennummern. Hier wird nichts übertüncht – der Goldgrund, sonst typisch für Ikonen, fehlt bewusst. 

Darin zeigt sich eine weitere fundamentale Spannung: Putins Propaganda simplifiziert die Komplexität der Wirklichkeit, während die Ikonen von Klymenko und Atlantova diese spannungsreiche Unüberschaubarkeit gerade aushalten. Putin konstruiert ein utopisches Bild des Sieges – Klymenkos und Atlantovas Ikonen hingegen halten der Realität des Krieges stand, einer Realität, die keine Sieger kennt.

Was für mich trotz aller Auseinandersetzung mit den Ikonen bleibt, ist die anfängliche Irritation: Das Heilige in direkter Berührung mit der Materialität des Krieges? Die beiden Denkrichtungen, die sich hier eröffnen, spiegeln – so meine ich – prägnant die Sichtweisen der beiden Fronten wider: Das Heilige heiligt nicht den Krieg, sondern heiligt im Krieg.

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Sonia Atlantova / Oleksandr Klymenko
Ikonen auf Munitionskisten. Die Kunst, den Tod ins Leben zu verwandeln
192 Seiten
30,00 €
ISBN: 978-3-948696-78-8