Ein Löwe als Brückenbauer? Gedanken von Martin Kirschner zum neuen Papst Leo XIV.

Am 8. Mai 2025 wurde Kard. Robert Francis Prevost OSA bereits im vierten Wahlgang zum neuen Papst Leo XIV. gewählt. Am 9. Mai führte Bernhard Löhlein ein Interview mit Lehrstuhlinhaber Prof. Dr. Martin Kirschner zum neuen Papst, in dem er ihn als einen Brückenbauer charakterisiert, mit dem er die Hoffnung verbindet, dass Leo eine kraftvolle Stimme des Friedens und der Diplomatie in der Welt sein wird und dass er die von Franziskus angestoßenen Prozesse innerkirchlicher Erneuerung fortsetzt.

Das Interview zu Papst Leo XIV. mit Prof. Kirschner finden Sie hier.

Eine Kurzfassung mit Einschätzungen weiterer Kollegen der Theologischen Fakultät finden Sie hier.

Was wird einem Kardinal Robert Francis Prevost durch den Kopf gegangen sein, als er zum ersten Mal als Papst Leo XIV. vor die riesige Menschenmenge am Petersplatz getreten ist und damit vor die gesamte Weltöffentlichkeit? Die Aufregung war dem neuen Papst jedenfalls anzumerken, was ihn mit seinem Redemanuskript etwas steif, aber in seinen Blicken und Pausen zugleich sehr menschlich hat erscheinen lassen. Ich bin überzeugt, dass die ersten Worte Programm sind: Was ist das eine Notwendige, was jetzt zu sagen ist?

Diese Botschaft war deutlich: Friede sei mit Euch allen! Es ist der Gruß des Auferstandenen, gesprochen in die Weltsituation eskalierender Kriege und Gewalt, von Feindbildern und Aufrüstung. Da zählt jedes Wort und der Nachdruck in den Worten: Frieden mit Euch allen, „wo immer sie sein mögen, alle Völker“ (Ukrainer und Russen, Israelis und Palästinenser); ein entwaffnender, demütiger Frieden – ohne sich von Angst bestimmen zu lassen. Gott liebt alle Menschen, bedingungslos! Beim ersten Hören hat sich mir jedes Wort eingegraben. Es ist eine zugleich politische und österliche Botschaft, die Not tut, gerade in Europa.

Im Vorfeld war für mich die große Frage: wieder ein Papst aus dem globalen Süden (Asien? Afrika?), oder dieses Mal wieder ein Europäer, vielleicht ein Italiener und Diplomat, der die Kurie gut kennt? Das Verblüffende: Prevost bringt das alles zusammen. Gebürtig in den USA war er 20 Jahre als Missionar in Peru und die letzten Jahre an der Kurie, verantwortlich für das Dikasterium für die Bischöfe, bestens vernetzt, ein Diplomat. Er steht Franziskus nah, hat aber in Habitus und Gestus eher an Benedikt erinnert. Er könnte ein stabilisierender Vermittler werden, der den von Franziskus angestoßenen Weg weitergeht und als promovierter Kirchenrechtler in Strukturen umsetzt; ein „oberster Brückenbauer“, Pontifex maximus, im besten Sinn. Dass er so schnell gewählt wurde, zeigt, dass es keine große Lagerbildung gegeben haben dürfte.

Aber ein Papst aus den USA? Dann kam mir ein unerhörter Gedanke. Johannes Paul II., der polnische Papst, hat wesentlich zur Überwindung des Kommunismus und der Spaltung Europas beigetragen, konnte aber nach 1990 den Siegeszug des Neoliberalismus und Neoimperialismus nicht verhindern. Ist es jetzt nicht der Westen, der sich im Niedergang befindet? Ist es nicht eine neue, brandgefährliche Spaltung der Welt, die wir erleben und die in einen großen Krieg zu führen droht? Ist es da nicht vielleicht providentiell: Ein Papst aus den USA, der in Peru verwurzelt ist und dessen Herz aufgeht, wenn er spanisch spricht? Ein us-amerikanischer Papst, der unabhängig ist: gegenüber Trump und den Demokraten, gegenüber einem disruptiven Neoimperialismus und gegenüber dem Establishment mit seiner Politik militärischer Expansion und Intervention. Er passt nicht in die Lager und kann vielleicht gerade so eine Stimme und Autorität sein, die in Ost und West, Nord und Süd, bei Konservativen und Liberalen gehört wird.

Der Name Leo kann hier Programm sein. Einerseits weil es den Mut des Löwen braucht, die Verbindung von theologischer Tiefe und politischer Präzision, für die der erste, „große“ Leo stehen mag. Zum anderen weil er auf Leo XIII. verweist und auf die katholische Soziallehre als einem alternativen Modell zu Kommunismus und Kapitalismus. Gilt es nicht in einer Zeit wegbrechender Ordnungen gemeinsam, in synodaler Weise daran zu arbeiten, eine neue Ordnung aufzubauen, die sozial und interkulturell, ökologisch und am Gemeinwohl orientiert ist? Das könnte die Wendung zur Peripherie unter Franziskus in eine Arbeit an Strukturen übersetzen. Ähnlich innerkirchlich: So wie Paul VI. umgesetzt hat, was Johannes XXIII. angestoßen hatte, so braucht es vielleicht jetzt einen offenen, am Programm von Franziskus ausgerichteten Papst, der aber zugleich zu vermitteln und langfristig aufzubauen versteht. Das scheint mir wichtiger als die Frage nach Einzelpositionen, die Prevost bisher vertreten hat. Schließlich geht es um einen gesamtkirchlichen Lernprozess, den der Papst anstößt, begleitet, moderiert und an dem er selbst teilnimmt. Das fordert Führungskraft und die Fähigkeit, zuzuhören und zu lernen, bevor dann im rechten Moment Entscheidungen getroffen und durchgesetzt werden. Leo XIV. scheint mir solche Fähigkeiten in hohem Maße mitzubringen. Als „Kind des Augustinus“, so hat er in seiner ersten Rede gesagt, möchte er „mit uns Christ“ und „für uns Bischof“ sein: Der synodale Lernprozess tritt in eine neue Phase.