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Neuerscheinung: Subversiver Messianismus. Interdisziplinäre Agamben-Lektüren

Prof. Dr. Martin Kirschner gibt neuen Sammelband mit interdisziplinären Ansätzen zur Agamben-Lektüre Homo Saccer heraus.

Wie lässt sich ein grundlegender politischer Wandel denken und an den Versprechen des Humanen ausrichten – in einer Welt, die von permanenten Krisen geprägt ist, in der die Politik zwischen Sachzwängen, Alternativlosigkeit und Krisenmanagement zerrieben wird und die sich in einem permanenten Ausnahmezustand zu bewegen scheint? Wie lässt sich diese Situation analysieren? Gibt es Auswege aus ihr, lässt sie sich gar überwinden? Welche Rolle spielt dabei die Theologie und wie lässt sich ihr Verhältnis zum Politischen bestimmen? Welche ontologischen Kategorien liegen dem Umgang mit Macht im Abendland zugrunde – und kann die Auseinandersetzung mit Kunst und Poesie Auswege weisen? Welches Potential stellt das messianische Denken bereit, um das Politische neu zu denken und die Sachzwänge auf andere Perspektiven hin zu öffnen?

In seinen großangelegten, über einen Zeitraum von über 20 Jahren betriebenen Studien des „Homo-Sacer-Projekts“ hat der italienische Philosoph Giorgio Agamben die Strukturen der Macht im Abendland genealogisch untersucht und die Figur der „einschließenden Ausschließung“ als ihren Kern herausgearbeitet. Die gewalttätige Seite dieser Strukturen zeigt sich in der souveränen Entscheidung über den Ausnahmezustand, in den Phänomenen des Lagers, des Flüchtlings und der Reduktion von Menschen auf ihr nacktes Leben. Strategien der Revolution und des Umsturzes reproduzieren unter umgekehrten Vorzeichen die Gewalt, die sie kritisieren. Agambens Forschungen lassen sich als Suche nach einer „sanfteren“ Strategie der Überwindung politischer Gewalt verstehen. Neben Beispielen aus Kunst und Literatur entwickelt Agamben solche Kategorien vor allem in seinen u. a. von Walter Benjamin inspirierten Lektüren der Briefe des Apostels Paulus, in denen er den grundlegenden messianischen Text des Abendlandes erkennt. Ein solcher Messianismus bewegt sich an der Grenze von Judentum, Christentum und säkularer Philosophie; er lässt sich weder theologisch noch christlich vereinnahmen, und doch führt er ins Zentrum der Theologie – gerade auch dort, wo er Religion und Theologie kritisiert.

Dieses Thema hat eine Gruppe von Forschern aus unterschiedlichen Disziplinen in drei Forschungsseminaren zusammengeführt, in denen wir uns mit Agambens Werk auseinandergesetzt haben. Die Studien, die aus diesen Forschungsseminaren hervorgegangen sind, liegen nun publiziert vor. Sie sind im Kontext des Forschungsfeldes III am Zentrum für Religion, Kirche und Gesellschaft im Wandel entstanden und werden als Grundlagenforschung Kategorien für das Projekt einer „Performativen Politischen Theologie für Europa“ bereitstellen. Wir haben die interdisziplinären Lektüren unter dem Titel „Subversiver Messianismus“ versammelt, weil es um Kategorien und Vollzüge geht, die festgefahrene Machtstrukturen außer Kraft setzen und die Gewalt von Zwang und Ausschluss unterbrechen. „Subversion“ ist hier eine öffnende und „rettende“ Kategorie, die nicht totalitäre Heilsansprüche erhebt (wie politische Messianismen), sondern fragmentarisch mitten im gelebten Leben nach Möglichkeiten eines anderen Gebrauchs der Körper und der Dinge, nach einer Form des Lebens und einer kommenden Gemeinschaft Ausschau hält, die sich dem gewalttätigen Zugriff entziehen. An die Stelle von reaktionärer oder revolutionärer Gewalt tritt die Suche nach einer radikalen, aber sanften Transformation „von innen“, deren theologisches Modell die messianische Wirkungsgeschichte Jesu bildet.


Mit Beiträgen von Daniela Blum, René Dausner, Daniel Kazmaier, Martin Kirschner, Aaron Looney, Edda Mack, Moritz Rudolph, Joost van Loon, Josef Wohlmuth, Peter Zeillinger, Michael Zimmermann

Angaben zum Buch: Kirschner, Martin (Hg.): Subversiver Messianismus. Interdisziplinäre Agamben-Lektüren (= Academia Philosophical Studies 70). Baden-Baden 2020.