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Rückblick zur Vortragsreihe „In Gesellschaft“: Zugehörigkeiten – Mobilisierung und Marginalisierung in der Migrationsgesellschaft im Wintersemester 2022/23

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Mit der Vortragsreihe bietet das ZFM Gelegenheit zum Austausch mit namhaften Persönlichkeiten, diskutiert mit ihnen in Gesellschaft einer interessierten Öffentlichkeit und bringt nicht zuletzt das wissenschaftliche Interesse des ZFM zum Ausdruck: einen an Flucht und Migration orientierten, analytischen Blick in die Gesellschaft zu werfen.

Im Wintersemester 2022/23 veranstaltete das ZFM die Reihe unter der Überschrift "Zugehörigkeiten – Mobilisierung und Marginalisierung in der Migrationsgesellschaft".
Die Voraussetzungen von Zugehörigkeit und Teilhabe sind in modernen Migrationsgesellschaften umkämpft und Gegenstand gesellschaftlicher Aushandlungen. Dies gilt in verschiedenen sozialen und institutionellen Kontexten der Gesellschaft wie dem Bildungs- oder Rechtssystem. Zivilgesellschaftliche Mobilisierungen sind wiederum Triebfedern in diesen Auseinandersetzungen um Zugehörigkeit, gesellschaftliche Teilhabe oder auch Marginalisierung von Flüchtenden und Menschen mit Migrationsgeschichte. Die Gesprächsreihe blickte im Rahmen von drei Beiträgen aus verschiedenen Perspektiven auf die Frage, wie Zugehörigkeits- und Marginalisierungsprozesse in Migrationsgesellschaften gestaltet sind, insbesondere wie sie hergestellt bzw. begrenzt werden.

Am 10. November eröffnete Thomas Geier von der TU Dortmund die aktuelle Gesprächsreihe mit einem Vortrag zu Bildungspraktiken der türkisch-muslimisch geprägten Gülen-Bewegung. Auf Basis der Erkenntnisse aus einem eigenen Forschungsprojekt, verwies Geier besonders auf im Feld beobachtete Prozesse der Subjektivierung. Ein Aspekt sei hierbei die Fokussierung auf Erfolg: In der Bewegung werde ein Ethos verbreitet, wobei eine erfolgreiche Bildungs- und Berufskarriere als sehr erstrebenswert gelte, was den entsprechenden Ehrgeiz der Teilnehmenden ansporne. Dies betrachtete Geier im Kontext der verbreiteten Diskurse über Muslim:innen als Gruppe mit Bildungsdefiziten. Daran schließt der zweite Aspekt an: die von vielen Teilnehmenden beschriebenen Rassismus- und Ausgrenzungserfahrungen, gegen die sich die Einbindung in die Bewegung als Gegengewicht verstehen lasse. Das verweist wiederum auf den dritten Aspekt, die dort stattfindenden Vergemeinschaftungspraktiken.
Dabei betonte Geier, dass die Rekonstruktion dieser Bildungs- und Subjektivierungspraktiken nicht auf eine positive oder negative Beurteilung der Organisation ziele. Über die in Deutschland lange diskutierte Frage, ob die Gülen-Bewegung als Sekte bzw. als islamistisch einzustufen sei, lasse sich mit dem gewählten Forschungsdesign ebenso wenig entscheiden wie über den von der türkischen Regierung gegen die Bewegung erhobenen Vorwurf, 2016 einen Putschversuch initiiert zu haben.

Am 08. Dezember begrüßten wir Stacy Brustin von der Columbus School of Law der Catholic University of America, Washington DC als zweite Referentin, deren Vortrag die institutionelle Einbettung unbegleiteter Minderjähriger in den USA in den Blick nahm. Für Kinder und Jugendliche, die über Resettlement-Programme Asyl in den USA finden, ist eine Unterstützung bis zum 23. Lebensjahr vorgesehen. Da diese meist bei Pflegeeltern untergebracht werden, kann sie jedoch auch darüber hinausgehen. Diejenigen hingegen, die meist über die Südgrenze allein in die USA einreisen, würden nur bis zum 18. Geburtstag Schutz vor Abschiebung genießen – auch ohne Asyl. In dieser Zeit werde nach Angehörigen in den USA gesucht. Brustin kritisierte die Verfahrensdauern und die Praxis von Mehrfachverlegungen zwischen Unterkünften und sogar Bundesstaaten. Diese stünden einer Stabilisierung der teils traumatisierten Minderjährigen entgegen und verhinderten oftmals die Schutzgewährung vor Eintreten des 19. Lebensjahres.

Am 19. Januar war Larissa Fleischmann von der Universität Halle-Wittenberg unser dritter und letzter Gast der aktuellen Gesprächsreihe. Auf Grundlage der Ergebnisse ihrer 20-monatigen ethnografischen Feldforschung, die sie im sog. Langen Sommer der Migration in Baden-Württemberg durchgeführt hatte, richtete sie im Vortrag den Blick auf die zivilgesellschaftlichen Akteur:innen und deren Unterstützungspraktiken. Sie stellte dar, dass es verkürzt sei, bürgerschaftliches Engagement dualistisch, entweder als politisch oder als humanitär – und damit als vermeintlich unpolitisch – zu klassifizieren. Vielmehr konnte sie die Ambivalenzen und Verstrickungen der scheinbar getrennten Bereiche aufzeigen.
Anhand der vielfältigen Motivationen und politischen Selbstverständnisse der Akteur:innen verdeutlichte sie, dass sich einige als humanitär-karitativ Hilfeleistende präsentierten und ihr Engagement – zumindest vordergründig – nicht als „politisch“ verstanden wissen wollten. Dieses „unpolitische“ Selbstverständnis nutzten einige der Akteur:innen jedoch auch als strategische Ressource, beispielsweise um ein breiteres Publikum für ihre Aktionen zu gewinnen. Fleischmann fand eine Vielzahl an politischen Effekten auch bei vermeintlich „unpolitischen“ Unterstützer:innen, die sich beispielweise für Aktionen gegen Abschiebungen stark machten. Weiterhin beobachtete sie in ihrer Studie auch sog. „antipolitische“ Effekte (im Verständnis Miriam Ticktins), mit denen die Reproduktion von Ungleichheiten und Hierarchien gemeint ist.

Wir danken allen Vortragenden für Ihre bereichernden Beiträge und hoffen auf ein baldiges Wiedersehen. Eine Fortsetzung der Vortragsreihe mit weiteren spannenden Gästen und Themen ist in Planung. Über Termine und Referent:innen informieren wir wieder auf unserer Homepage.