Warum lernen französische Schüler/innen Deutsch? Dieser Frage sind Gabriel Toffolutti und  Camille de la Morinière (2e année Sciences Po Rennes) nachgegangen. Die deutsche Sprache zieht immer weniger französische Schüler/innen an, im Gegensatz zu Englisch oder Spanisch. Doch lernen heute 19% der Schüler/innen in Frankreich Deutsch, aber warum?

Reformen im französischen Bildungssystem - zum Nachteil des Deutschunterrichts

Mit dem Aachener Vertrag wurden neue Ziele in den deutsch-französischen Beziehungen gesetzt. Eines dieser Ziele war und bleibt, mehr Schülerinnen und Schüler sowie Studierende für das Lernen der Partnersprache zu interessieren. 2020 lernten circa 3% der Schüler/innen in Frankreich die deutsche Sprache als erste Fremdsprache und 16% als zweite Fremdsprache.

Insgesamt beläuft sich der Anteil der Deutschlernenden in Frankreich im Jahr 2020 auf 1,19 Millionen, was etwa einer Steigerung von 0,19 Millionen seit 2019 entspricht. Jede Reform, sei es die des Collèges (Mittelstufe) im Jahre 2016 durch die französische Bildungsministerin Najat Vallaud-Belkacem, in der die sogenannten englisch-deutschen «Europaklassen» unter dem Argument des «Elitismus» und der Chancengleichheit abgeschafft wurden, oder die aktuellere Reform des Lycées (Oberstufe), die ein komplexeres, aber Grund- und Leistungskurssystem eingeführt hat, wirken sich alle negativ auf die Fremdsprachen aus. Das Fach Deutsch als Fremdsprache ist kein Fall für sich, sondern muss im Gesamtkontext aller  Zweit- und Drittfremdsprachen betrachtet werden.

Das Verhältnis von erster zu zweiter Fremdsprache

In Frankreich werden durch die Schulverwaltungsbehörden jährlich Stundendotierungen für jedes Fach festgelegt. Im Bereich Fremdsprachen handelt es sich um eine globale Dotierung, die die Schulleitung auf die erste und zweite Fremdsprache verteilt. So lag es schon immer im Ermessen einer Schulleitung, eine Gewichtung zu schaffen, was nicht selten zur Folge hatte, bzw. noch hat, dass regelmäßig eine Priorisierung des Englischunterrichts stattfindet und dieser ein etwas grösseres Stück des Kuchens bekommt.

Tatsächlich gewährt das Bildungsministerium den Gymnasien 4,5 Stunden für LV 1 (langue vivante)  und LV 2 (langue vivante). Je nach Schule kann die Verteilung der Stunden variieren. Entweder gibt es eine Parität: z.B. 2 Stunden 15 Minuten für jede Sprache oder 2 Stunden 30 Minuten für LV1 und 2 Stunden für LV2 in dem Fall, dass man sich entscheidet, sich auf das Lernen von Englisch zu konzentrieren. Es sollte auch bedacht werden, dass die 2h30 auf 2 Stunden reduziert werden können, wenn die Gruppe kleiner ist (z.B. etwa fünfzehn Schüler).

Die Oberstufenreform drängt das Deutsche weiter zurück

Die Oberstufenreform (réforme du lycée) stellt in dieser Hinsicht eine erneute Herausforderung dar. Die Wirkung dieser Reform wird sich 2021 erstmalig ablesen lassen. Da sie mit einer Reduzierung der Stundenzahl insgesamt und der gleichzeitigen Einführung von Leistungskursen andererseits einhergeht (drei in Klasse 11, davon noch zwei in Klasse 12, also dem Abiturjahrgang), welche zum Ziel haben, echtes Expertenwissen zu vermitteln, wird der Fremdsprachenunterricht auf Grundkursniveau mit zwei Wochenstunden noch weiter in den Hintergrund gestellt. Für Deutschlernende unter den Studenten, insbesondere im Rahmen der Sonderstudiengänge, die gute bis sehr gute Deutschkenntnisse erfordern, wird das erreichte Niveau wohl kaum noch ausreichen. Ganz zu schweigen von Spezialkursen, wie z.B. der Abibac-Sektion, für die nicht alle Gymnasien zugelassen sind. Die Schaffung einer territorialen Diskriminierung wird durch die Reform noch verstärkt, da es oft große Städte wie Rennes sind, die genügend finanzielle Mittel erhalten, um eine Abibac-Sektion zu eröffnen, im Gegensatz zu anderen kleinen Provinzgymnasien. Dies hat zur Folge, dass die deutsche Sprache je nach Größe der Gymnasien mehr oder weniger wertgeschätzt wird.

Nur eine Fremdsprache kann Leistungsfach werden - und das ist in der Regel nicht Deutsch

Es ist vor allem die mit der Reform verbundene Wahl der Fächerspezialisierungen, die sich zweifellos negativ auf Fremdsprachen, insbesondere auf Deutsch auswirken wird. Ein Abiturient kann als Leistungsfach nur eine Fremdsprache wählen, was schon in den drei Jahrgängen, die sich aktuell in der Reform befinden, einen erneuten Massenandrang zum Anglizismus zur Folge hat. Aus finanziellen Gründen hat die Besonderheit, bzw. der Leistungskurs Deutsch, gar keine Chance, angeboten zu werden. So wird Deutsch mit maximal zwei Wochenstunden auf einen fast inexistenten Status relegiert. Tatsache ist schon heute, dass das Fremdsprachenniveau im Hochschulbereich als sehr schwach und oft unzureichend qualifiziert wird. Immer neue Schwerpunkte und Sekundärangebote werden auf Englisch gelegt, die sich auf erdrückende Weise auf Zweit- und Drittfremdsprachen auswirken. Die Zahl der Deutschlernenden unter Studierenden, die schon drastisch niedriger ist als die der Schüler, wird aufgrund des Niveauverlusts der Schüler weiterhin sinken. Dieser Kompetenzverlust kann die Folge der Reform sein, Deutsch LV1 und LV2 innerhalb desselben Kurses in elften und zwölften Klassen zu mischen, was eine harmonische Progression der gesamten Klasse aufgrund eines zu heterogenen Niveaus in Deutsch verhindert. Darüber hinaus wird durch die Reform die Fremdsprachenprüfung des allgemeinen Abiturs mit der des technischen Abiturs zusammengelegt. Auch wenn der Test üblich ist, sind die Kompetenzen im Deutschen nicht. Das Niveau wird daher gesenkt, damit alle auf dem gleichen Test komponieren können. Das ist eine Art Selektion von unten nach oben, die zwar Ungleichheiten abbauen soll, sie aber nur noch verschärft, wenn es darum geht, Deutsch im Hochschulbereich zu studieren.

Deutsch-französische Studiengänge haben es schwer, wenn die Schüler kein Deutsch lernen

Ein Defizit zwischen dem erforderlichen Sprachniveau im Hochschulsystem oder bestimmten Studien und den Sprachkompetenzen führen nämlich zu sinkenden Zahlen derjenigen, die sich für zum Beispiel deutsch-französische Doppelstudiengänge entscheiden, weil das Gelingen ihnen einfach nicht möglich scheint.

So werden hochgradig zukunftsversprechende Studiums- und Ausbildungsperspektiven, wie integrierte deutsch-französische Studiengänge zur Unmöglichkeit, weil sie einfach nicht zur Strategie der Oberstufenpolitik gehören, selbst in den Schulen mit Schülerpotential im Germanistik-Bereich. Doch während das Niveau der Studenten in der Sekundarstufe infolge dieser Reformen stetig sinkt, will und kann es sich die Hochschulbildung nicht leisten, neue Studenten Begriffe nachholen zu lassen, die auf ihrem Niveau bereits erworben sein sollten, weil die Lehrpläne dafür zu dicht sind. Infolgedessen ist die Zahl der Studenten, die sich für Fremdsprachen einschreiben, stark rückläufig. Im Jahr 2018/19 waren 2 421 Studierende in Studiengängen der klassischen Germanistik und 5 231 Studierende im Fach LEA (Langues étrangères appliquées) eingeschrieben, ein Verlust von 13% im Vergleich zu 2015. Aus einer strukturellen Ebene bedeutet dies das Verschwinden der deutschsprachigen Abteilungen an den Universitäten und einen Mangel an Deutschlehrern zu einer Zeit, in der es auf dem Arbeitsmarkt einen echten Bedarf an Menschen mit Deutschkenntnissen gibt.

Deutsch eine elitäre Sprache - der zwiespältige Ruf des Deutschen

Ein zweites Hindernis, das schon älter als die Oberstufenreform ist, bleibt der Ruf der Deutschen Sprache bei den französischen Schülern. Die deutsche Sprache gilt unter ihnen als eine elitäre, zukunftsversichernde, aber auch gleichzeitig komplexe und schwierige Sprache. Sie wird also meistens im Schulsystem von « guten » Schülern (mit guten schulischen Leistungen) gewählt, wo sich schwächere Schüler sich eher für Spanisch entscheiden, eine Sprache, die fälschlicherweise als leichter zu erlernen betrachtet wird.

Diese Sichtweise auf die deutsche Sprache spiegelt sich in einer Umfrage von 111 französischen Deutschschülern wider, die zwischen dem 16. und 21. Februar 2021 durchgeführt wurde und denen eine Reihe von Fragen zu den Gründen gestellt wurde, die sie dazu veranlasst haben, seit der Schulzeit Deutsch zu lernen. So wurde Deutsch schon vor der Einführung der Reformen in den Mittel- und Oberschulen, die das Erlernen anderer Fremdsprachen als Englisch schwächten, von 66% der Umfrageteilnehmer als schwierige Sprache eingestuft. Grammatik, Konjugation und Aussprache sind die schwierigsten Aspekte der deutschen Sprache. Andere verweisen auch auf die mangelnde Strenge und Bedeutung, die dem Erlernen einer soliden grammatikalischen Basis im Sprachunterricht der Mittel- und Oberstufe beigemessen wird, daher die Schwierigkeiten, auf die man später in der Hochschulbildung manchmal stößt.

Dennoch sind die Vorteile der deutschen Sprache vielfältig.

Erstens in Bezug auf den intellektuellen Reichtum und die internationale Ausrichtung: 66,7 % der Schüler sind der Meinung, dass es eine Öffnung zur reichen und vielfältigen Kultur und Geschichte Deutschlands, Österreichs und der deutschsprachigen Schweiz ist und 88,2 % sind der Meinung, dass Deutsch in der Europäischen Union nützlich ist. Laut Xavier Susterac, u.a. Vizepräsident der Deutsch-Französischen Handelskammer und Mitglied des Hochschulrats der Deutsch-Französischen Hochschule, die Kurse wie den Deutsch-Französischen Studiengang zwischen Eichstätt und Rennes fördert, “wird die Neugründung Europas jedoch nur um Schlüsselakteure möglich sein, die politische Stabilität bieten, also um Frankreich und Deutschland", daher die Notwendigkeit, Leute zu rekrutieren, die fließend Deutsch, Französisch und Englisch sprechen. Auf junge deutsch-französische Hochschulabsolventen warten also zahlreiche Chancen, sowohl innerhalb der EU als auch jenseits des Rheins.

Die Deutsch-Französische Hochschule zeigt die Vorteile eines integrierten Studiums

Die Deutsch-Französische Hochschule fördert akademische Programme wie den Deutsch-Französischen Studiengang und unterstützt die deutsch-französische Zusammenarbeit in Hochschulbildung, Forschung und beruflicher Integration. Das Wissen, dass dies bei der Suche nach einer ersten Arbeitsstelle nach dem Schulabschluss helfen kann, könnte französische Schüler dazu ermutigen, Deutsch zu lernen, aber laut den Gymnasien/Universitäten wird über diesen Punkt wenig kommuniziert. Derzeit gibt es 185 deutsch-französische Studiengänge wie den zwischen Eichstätt und Rennes.

Die Nähe zur deutsch-französischen Grenze als Motivation, Deutsch zu lernen

AbiBac-Klassen
https://aphgpoitoucharentes.wordpress.com/2018/02/25/essai-de-cartographie-des-sections-abibac/

Zweitens erleichtert die Nähe zur deutsch-französischen Grenze aus geografischer Sicht den Austausch über den Rhein und ermutigt französische Schüler, Deutsch von deutschstämmigen Lehrern zu lernen, was eine höhere Qualität der Bildung möglicherweise gewährleistet als in anderen französischen Regionen. Die Bedeutung der geographischen Nähe zu Deutschland scheint interkulturelle Ausbildungen wie Abibac zu fördern. Laut nebenstehender Karte gibt es in der elsässischen Akademie 18 Abiba-Sektionen, im Gegensatz zu den Akademien Nordfrankreichs und Île-de-France, die die Hälfte der Zahl Abibac -Sektionen in Elsass haben. Das Erlernen der deutschen Sprache wird also in Ostfrankreich stark gefördert. In elsässischsprachigen Familien ist es oft sinnvoll, gleichzeitig Deutsch zu lernen, manchmal schon in der Grundschule. Wo die meisten Grundschulen die Kinder an die englische Sprache heranführen, ermutigen die Grenznähe und die Kultur des Ostfrankreichs die Schüler, Deutsch zu lernen.

Englisch als Universalsprache sollte ausreichen, oder?

Zudem denken auch andere Schüler, die Deutsch nicht als Fremdsprache wählen, dass in allermeisten Fällen Englisch völlig ausreichend bleibt. Das Massenphänomen Englisch wird oftmals auch in Orientierungsgesprächen von Lehrern und Pädagogen als einziges Muss dargestellt; so entspricht die einseitige Gewichtung der englischen Sprache fälschlicherweise auch einer Art « Beruhigung » der Lernenden und ihrer Familien. Die Dominanz der angelsächsischen Kultur in unseren Gesellschaften und ihre Zugänglichkeit machen es laut der Umfrage auch möglich, Englisch schneller zu lernen als Deutsch, dessen Kultur heute weniger verbreitet ist. Dies kann daher zu der Annahme führen, dass einfache Englischkenntnisse ausreichen. Während in Wirklichkeit das Erlernen einer Landessprache wie Deutsch die einzige Möglichkeit ist, in die deutsche Kultur einzutauchen, die Mentalität der Deutschen und ihre Lebensweise zu verstehen. Mit Englisch bleibt man auf den Status eines Touristen beschränkt. Es ist auch davon auszugehen, dass der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union Frankreich vielleicht einen größeren Anreiz gibt, sich dem deutschen Nachbarn zuzuwenden, um die bilateralen Beziehungen wieder zu beleben, insbesondere durch das verstärkte Erlernen der deutschen Sprache unter französischen Schülern.

Welche Zukunft für den Deutschunterricht?

Am 25. Januar 2021 fand das 8. Videokonferenztreffen zwischen den Rektoren der französischen Akademien und dem Kultusminister statt. Das Ziel dieses Treffens war es, das Erlernen der Sprache des Partners zu stärken. Es ist zu hoffen, dass die Verstärkung der deutsch-französischen Zusammenarbeit im Bildungsbereich dazu beiträgt, die traurigen Folgen der Reformen der französischen Gymnasien und Lycées auf das Erlernen der deutschen Sprache in Frankreich auszugleichen, in einer Zeit, in der es schwierig ist, Deutschlehrer französischer Herkunft zu rekrutieren, um den Deutschunterricht aufrecht zu erhalten.

Im Februar 2020 wurde eine Petition gestartet: "Pour la diversité des langues. Des moyens fléchés pour l'allemand dès la rentrée 2021" bei Change.org.