Boner, Der Edelstein. Digital-Dokumentation und -Edition

Der Edelstein des von 1324-50 in Bern beur­kun­denden Dominikaners (Ulrich?) Boner ist mit 100 von Pro- und Epilog umrahmten Texten die erste geschlossene und als ein­heitliches buoch kon­zi­pierte Samm­lung äsopischer Fabeln und funktions­ver­wand­ter anonymer Exempla in deutscher Sprache. Sie ist (incl. Streu­gut) in 36 zumeist illu­strierten Handschriften und zwei Inku­nabelausgaben noch der Guten­berg-Zeit (Bam­berg 1461 und 1463/64) überliefert und in letzteren das mutmaßlich erste mit Typen und Holz­­schnit­ten ge­­druckte ­Buch überhaupt. Erste gattungs- und quellen­geschicht­liche Edelstein-Studien verdankten sich seit Mitte des 18. Jahrhunderts pro­minenten deutschen Dichtern (Ch. F. Gellert, J. Ch. Gottsched, G. E. Lessing), bevor die Samm­lung bei den Gründervätern der germanistischen Mediävistik (J. J. Bodmer, J. J. Brei­tinger, G. F. Benecke, J. und W. Grimm, K. Lachmann, F. Pfeiffer) zum Erpro­bungs­objekt verschiedener editionsmethodischer Angänge für breit überlieferte vor­moderne volks­spra­chige Texte wurde. Die bis dahin bereits fünfte und bis heute letzte ihrer Edelstein-Ausgaben, die editio citanda Pfeiffers von 1844 (Neuaufl. Stange 2016), liegt nun schon gut 175 Jahre zurück und konnte sich auf nicht einmal die Hälfte der heute bekannten 38 Textzeugen stützen. Da die opulente Überlieferung einen jedoch auf­fällig un­­festen Textumfang mit im wesentlichen drei Bestandsklassen zu 100, 90 und 84 Samm­lungstexten auf­weist, gab sie die stem­ma­to­logisch langhin kruzia­le Frage auf, "ob dies allein auf Verstümmelungen im Überlie­fe­rungsablauf zurückgeht oder ob sich darin von B[oner] zu ver­ant­wor­tende Edi­tions­schritte spiegeln" (K. Grubmüller, Art. 'Boner', in: 2VL, Bd. 1, 1978, Sp. 948f.). Mitt­ler­weile hat eine Gesamtkollationierung der Überlieferung und der flan­kierende Ein­satz digitaler phylo­gene­tischer Stemmata klare Evi­denz dafür ergeben, dass das hete­ro­gene Über­lie­fe­rungs­bild nicht von suk­zessivem 'Aufwuchs' eines Ausgangsbestands, sondern von ge­brauchs­be­dingt eklek­tischer Tra­die­rung und Bestands­frag­mentie­rung der Ursprungs­samm­lung verursacht wurde.

Da es ein philologischer Anachronismus wäre, den 'Urtext' – wie es Pfeiffer versuchte – rekonstruktions­methodisch anzuzielen, kann (zumal die Filiationen kontaminiert sind) eine neue Edition nur nach dem Leithandschriftenprinzip verfahren. Aber auch dem stellt die Überlieferungslage erhebliche Hindernisse in den Weg, da beide dem Archetyp nächsten Handschriften verschollen oder vernichtet und nurmehr in Teilen bezeugt sind und drei weitere der umfangreichsten Bestandsklasse starke materielle Verluste oder unikale Lesarten aufweisen. Um die von Boner intendierte Gesamt­samm­l­ung mit dem numerus perfectus von 100 bîschaft samt Pro- und Epilog zu reprä­sentieren, ist daher bis zu fünf Leitcodices und unvermeidlich auch solchen dezi­mierter Bestandsgruppen zu folgen. Der geplante digitale Darstellungs­modus er­mög­licht es, dem zurückhaltend normalisierten Editionstext (mit textkritischem Apparat und Kom­mentar) die für Fassungsvarianten repräsentativsten Textzeugen in Trans­krip­tionen synoptisch zuzu­schalten, die dem XML-basierten Standard der Text Encoding Initiative (TEI) folgen. Zudem können den Editionstexten auch sämtliche der nicht trans­kri­bierten Überlieferungsträger in Digitalfaksimiles zur Seite gestellt wer­den. Eine Bild­datenbank soll überdies die insgesamt annähernd 1.350 Edelstein-Illu­stra­tionen ver­glei­chend erschließbar machen.

Die Digital Humanities der UB Heidelberg werden dem Projekt neu zu erarbeitende Werkzeuge zur editionsunterstützenden Datenmodellierung (wie etwa der Transformation von TEI-Daten in die editorischen Operationen) beisteuern.

Einen entsprechenden Verbundantrag zur Förderung des Vorhabens hat die Deutsche Forschungsgemeinschaft Ende Mai 2023 bewilligt. Die erste Projektphase läuft bis Februar 2027.

Zu einer Einführung in das Projekt (Überlieferungsdokumentation, Forschungslage, Editionskonzept etc.) lädt das Boner-Portal  auf den Seiten der Heidelberger digitalen heiEDITIONS ein.

 

Ansprechpartner:

Prof. i.R. Dr. Gerd Dicke, Projektleitung

Dr. Christina Patz M.A., Projektkoordination