Winfried Büttner: "Gottheit in uns"

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Die monastische und psychologische Grundlegung der Mystik nach einer überlieferten Textkollektion aus dem Werk des Šemʿon d-Ṭaibuteh

Die auf Deutsch übersetzten und kommentierten Texte entfalten das faszinierende geistige Erbe eines im persischen Bet Huzaye (Khusistan) ansässigen Arztes und Einsiedlers vom Ende des 7. Jahrhunderts. Für Šemʿon d-Ṭaibuteh - "Simeon von seiner Gnade" - schmiegt sich die menschliche Seele an das Herz wie ein Weinstock an die Hauswand; und gerade so wie dessen Blätter zunächst Blüte und Trauben schützen, bis man die Früchte erntet und verkostet, verhält es sich auch mit dem geistlichen Leben: Denn bei aller Bewältigung negativer Erfahrungen, Selbstüberwindung und einer bis zu totalem Reizentzug und zur völligen Abschottung von äußeren Einflüssen gehenden Einkehr soll die Askese gleichsam nicht ins Kraut schießen, sondern ganz dem Reifen geistlicher Erkenntnis dienen und zur Wahrnehmung übernatürliche Genüssen verhelfen. Mit Gott vertraut geworden, gelangt der Geistesmann zuletzt auf eine höhere Ebene seiner Daseins und erfährt eine individuelle Erneuerung nach Art einer vorweggenommenen Auferstehung.

Hierbei schildert der Eremit, der nicht nur von Gelehrten und geistlichen Meistern vorgeprägt ist, sondern auch auf die eigene Erfahrung zurückgreift, die Seele in ihren subtilen Anteilen als göttliche Wohnung und tiefsten Ausdruck menschlicher Gottesebenbildlichkeit, so daß er dort das Reich Gottes innerhalb des Menschen, ja sogar die "Gottheit in uns" verorten will. Nicht weniger provokativ klingt es, wenn er die Begegnung mit Gott in den Kategorien eines vermischten Zustands begreift. Insgesamt lenkt er den Lauf seiner Quellen - darunter Gregor von Nyssa, die macarianische und evagrianische Tradition, Sergius von Rešʿaina und das syrische Corpus Dionysiacum sowie anachoretische Pioniere seiner Heimat - in die Richtung seines eigenen brillanten Beitrags und läßt das Ganze in verschiedene Facetten einer an Christus orientierten Mystik des Herzens, des Aufstiegs, der Vereinigung und Vergöttlichung münden.

Weiterhin interessieren die vom spätantiken Erbe teils divergierenden anatomischen und physiologischen Angaben des in der Nähe von Gond-i Šapur beheimateten Arztmönchs. Jenseits von Metapher, Monastik und Medizin präsentiert er zudem ein nuanciertes psychologisches Modell, das auf moderne Leser zwar unkonventionell wirken mag, vielfach aber das religiöse und gelehrte Umfeld widerspiegelt, als Grundlage der Mystik. Chronologisch eingebettet in eine Zeit religiösen wie politischen Umbruchs und zwischen zwei Phasen, in denen das streng diphysitische Kirchentum seiner Umgebung auf Orthodoxie dringt, zeigt sich ein außergewöhnlicher Autor, der schon zu seinen Lebzeiten auf Widerspruch stieß.

Jahr: 2017
Wiesbaden; Harrassowitz; 2017; xv, 357 S. - (Eichstätter Beiträge zum Christlichen Orient; 5) 
ISBN: 978-3-447-10790-7

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