Vom 5. bis 8. März 2021 besuchte Papst Franziskus den Irak. Die Apostolische Reise in das Zweistromland setzte Impulse für den politischen, ökumenischen und interreligiösen Dialog in dem kriegsgebeutelten Land. Nachfolgend sind wichtige Hintergrundinformationen zur Reise zusammengestellt.
Von den 39 Millionen Einwohnern des Irak sind etwa 98 % Muslime. Knapp zwei Drittel davon sind Schiiten, etwa ein Drittel Sunniten. Die muslimischen Kurden sind überwiegend sunnitisch. Vor 2003 soll es im Irak eine Million Christen gegeben haben. Seither haben über die Hälfte der irakischen Christen das Land verlassen. Schätzungen gehen von knapp 300.000 verbliebenen Christen aus, die sich auf die Hauptstadt Bagdad und den Norden des Landes konzentrieren. Sie gehören folgenden Konfessionen an:
Der Großteil der Christen im Irak – etwa zwei Drittel – gehört der Chaldäisch-Katholischen Kirche an. Der Ersthierarch dieser mit Rom unierten Kirche, Louis Raphaël Sako, residiert als „Patriarch von Babylon der Chaldäer“ in Bagdad. Die heute etwa 150.000 Gläubigen im Irak feiern die Liturgie im ostsyrischen Ritus.
Die zweitgrößte christliche Konfession im Irak bilden die Assyrer. Mar Gewargis III. Sliwa ist Katholikos-Patriarch der Assyrischen Kirche des Ostens. Heute leben noch etwa 50.000 Gläubige im Irak. In den 1960er-Jahren kam es innerhalb der Assyrischen Kirche des Ostens zu einem Schisma im Streit über die Kalenderreform. Es spaltete sich die Alte Kirche des Ostens ab.
Zusammen machen die beiden Kirchen etwa 10 % der irakischen Christen aus. Zur Syrisch-Orthodoxen Kirche gehört das etwa 20 Kilometer von Mossul entfernte Kloster Mar Mattai. Die Gläubigen der Syrisch-Katholischen Kirche aus Bagdad sind vor allem in den Norden des Landes abgewandet.
Viele Armenier waren nach dem Ersten Weltkrieg als Flüchtlinge in den Irak gekommen. 2003 gab es etwa 18.000 armenisch-apostolische und rund 3.000 armenisch-katholische Gläubige. Die meisten von ihnen sind inzwischen ausgewandert.
Die große Mehrheit der Christen im Irak ist katholisch, aber nur eine kleine Minderheit unter ihnen ist römisch-katholisch. Der Karmelit Jean Benjamin Sleiman ist Erzbischof von Bagdad und zuständig für etwa 2500 Gläubige des römischen Ritus.
Mit dem wirtschaftlichen Niedergang, bedingt durch die internationale Isolierung des Landes und die Sanktionen, setzte Saddam Hussein statt auf Säkularismus und Moderne auf eine stärkere Rolle der Religion. Saddam begann, sich in der Öffentlichkeit als frommen Muslim darzustellen und die islamischen Gefühle der Bevölkerung für sich auszunutzen. Viele Errungenschaften, die das Regime bis dahin erreicht hatte, wurden seit dem zweiten Golfkrieg zunichte gemacht. […] In der Modernisierungspolitik hatten die Christen eine große Chance gesehen, umso größer waren ihre Sorgen angesichts von Islamisierungstendenzen und der Abwendung vom Westen. Die Beziehungen zu den Christen verschlechterten sich. Nur eine Episode bildete darin, dass Saddam Hussein Papst Johannes Paul II. die Pilgerreise nach Ur, dem Geburtsort Abrahams, verweigerte, die dieser in Vorbereitung auf das Heilige Jahr 2000 unternehmen wollte.
(Quelle: Vogt, Matthias: Christen im Nahen Osten. Zwischen Martyrium und Exodus, Darmstadt 2019, 203f.)
Mit dem Sturz Saddam Husseins freilich begann alsbald die Hatz religiöser Fanatiker gegen die Christen. Über ihre Nöte unter Anfeindungen, Diskriminierungen und Terror berichten die Medien deutlich weniger. Zu offensichtlich markiert die Lage der Christen im Irak den Wandel, der im Gefolge der amerikanisch-britischen Intervention im alten Mesopotamien auf eine Abwendung vom säkularen Staat und eine Hinwendung zu einer verstärkten Islamisierung weist. Diese durchaus zweifelhafte Folge des militärischen Abenteuers verstärkt die Marginalisierung der Christen in der neuen irakischen Gesellschaft, die für den Erhalt des säkularen Staates oder zumindest für gesicherte Rechte für die Christen kämpften.
(Quelle: Tamcke, Martin: Christen in der islamischen Welt. Von Mohammed bis zur Gegenwart, München 2008, 165f.)
Das sogenannte Kalifat erstreckte sich über eine Länge von 900 Kilometern, und das über die Grenze zweier Staaten – Irak und Syrien – hinweg. Damit setzte der „Islamische Staat“ sich über die von den westlichen Staaten im Sykes-Picot-Abkommen einst gezogenen Landesgrenzen hinweg. Die Auswirkungen des Kolonialismus, so schien es, waren aufgehoben. Überall auf der Welt schauen Muslime auf das neue Kalifat, und auch, wenn längst nicht alle von seiner Legitimität – und noch weniger von der seines Kalifen, Al-Baghdadi – überzeugt waren, war dem neuen Geschöpf doch zumindest weltweite Aufmerksamkeit sicher. […] Tatsächlich strömten Kämpfer in Scharen herbei und halfen, den neuen Staat zu verteidigen und zu erweitern. Denn dort, waren und sind seine Anhänger überzeugt, würden sich religiöse und politische Macht vereinen.
(Quelle: Knipp, Kersten: Nervöser Orient. Die arabische Welt und die Moderne, Darmstadt 2016, 327.)
Die Mehrheit der irakischen Christen flüchtete im Sommer 2014 infolge eines Ultimatums durch den Islamischen Staat in die föderale Region Kurdistan-Irak (RKI). Das IS-Ultimatum an die christliche Minderheit vom 19. Juli 2014 lautete, entweder zum Islam zu konvertieren, eine Sondersteuer zu entrichten oder durch das Schwert exekutiert zu werden. […] Die Einschätzung, dass es in der Folge der Machtübernahme des IS in der Region Mossul zu ethnischen Säuberungen kam, wird von Human Rights Watch (HRW) geteilt. Die Menschenrechtsorganisation berichtet von der Entführung und Gefangennahme christlicher Nonnen und Waisenkinder sowie der Entfernung von Christen aus Regierungsämtern in Mossul durch den IS. Sarah Leah Whitson, die Koordinatorin für den Nahen Osten bei HRW, spricht von einer gezielten Verfolgung verschiedener religiöser Minderheiten.
(Quelle: Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages: Zur Situation religiöser Minderheiten in Irak und Syrien, Berlin 2015, 10f.)
Nachdem die christlichen Siedlungsorte in der Ninive-Ebene mittlerweile wieder zurückerobert bzw. befreit worden sind, könnte jetzt theoretisch der Wiederaufbau der zerstörten Gebäude und die Wiederherstellung der Infrastruktur beginnen. Man kann jedoch darüber streiten, ob beides gegenwärtig schon möglich und sinnvoll ist. Während eine gewisse Zahl rückkehrwilliger Binnenflüchtlinge lieber heute als morgen in die Ninive-Ebene zurückgehen würde, sind andere der Meinung, dass die Rückkehr unter den gegebenen Umständen – und vielleicht sogar mittel- bis langfristig - nicht realisiert werden kann.
(Quelle: Oehring, Otmar: Christen und Jesiden im Irak: Aktuelle Lage und Perspektiven, Berlin 2017, 77.)
Ziel des Ninive-Wiederaufbau-Komitee (Nineveh Reconstruction Committee - NRC) ist es, die Häuser, die den Binnenflüchtlingen (IDPs) gehören, die aus ihren christlichen Dörfern in der Ninive-Ebene geflohen sind, wiederherzustellen. Nachdem die Ninive-Ebene aus der Hand des ISIS befreit und nun in einigen christlichen Dörfern eine gewisse Stabilität erlangt worden war, begannen die christlichen IDPs damit, ihre Rückkehr zu planen und die örtlichen Kirchenführer darum zu bitten, ihnen dabei zu helfen, nach Hause zurückzukehren. Diese Kirchenführer (vor allem die chaldäisch-katholischen, die syrisch-katholischen und die syrisch-orthodoxen) wandten sich ihrerseits an Kirche in Not, die Stiftung, die den christlichen IDPs bereits seit zwei Jahren beim Überleben in Erbil und den Nachbarstädten geholfen hatte. Dies war der Beginn einer außerordentlichen Aktion, des sogenannten „Marshall-Plans“ für die Christen im Irak, der nicht nur den Wiederaufbau, sondern zugleich auch die Schaffung von Arbeitsplätzen durch die Bauarbeiten und die damit verbundenen Dienstleistungen ins Auge fasste. Der erste Schritt bestand in der Notwendigkeit, von Grund auf tätig zu werden und Fachkompetenz in Anspruch zu nehmen.
Das Mosaik dieses Landes ist ernstlich vom Exodus Tausender von Menschen jeden Glaubens und jeder sozialen Schickt bedroht. Nur der Frieden, ein wahrer Frieden, kann dem ein Ende setzen. Ein vereinter Irak ist ein großer Reichtum für sein Volk, für den Mittleren Osten, ja für die ganze Welt! In diesem Sinne ist es wünschenswert, dass die Christen bleiben und ihren Beitrag zur Entwicklung leisten. Sie sind Teil dieses Mosaiks. Das wird auch für die gesamte muslimische Welt positiv sein, da sie – wie viele sagen – ein Element der Mäßigung sind und in der großen irakischen Gesellschaft ein Impuls und ein Appell sein können. In dieser Perspektive ist es folglich notwendig, ihnen dabei zu helfen, dort zu bleiben und zu glauben, dass hier ein Platz für sie ist.
(Quelle: Filoni, Fernando: Die Christen im Irak. Ihre Geschichte von den Anfängen bis heute, Stuttgart 2016, 242.)
Wir werden in unserem Land nicht von heute auf morgen eine Demokratie nach westlichem Vorbild einführen können. Dem stehen unsere traditionellen Stammesstrukturen entgegen. Innenpolitisch benötigen wir Menschen in der Regierung, die für alle Iraker vertrauenswürdig sind. An deren Spitze sollte ein vom Volk legitimierter, umsichtiger, gleichzeitig aber auch durchsetzungsfähiger Staatsmann stehen. Ihm muss es gelingen, die unterschiedlichen gesellschaftlichen und religiösen Gruppen zur Wiederherstellung der nationalen Einheit des Landes zu vereinen. Mit anderen Worten, es sollte alles getan werden, um eine tragfähige Zivilgesellschaft zu schaffen. Ein einheitliches Gemeinwesen also, das auf der Trennung von Religion und Staat basiert. Die Iraker sollen nicht nach ihrer Religionszugehörigkeit eingeteilt werden. Es darf keine Menschen zweiter Klasse mehr geben. Den Christen sollte endlich die selbstverständliche Gleichstellung als vollwertiger Bürger des Landes zuerkannt werden. Doch leider ist extremistisches Gedankengut nicht nur in den Köpfen der „IS“-Terroristen zu finden. Auch die Regierung trägt Mitverantwortung an der Vertreibung der Christen. Derzeit sieht sie tatenlos zu, wie sich skrupellose Geschäftemacher gemeinsam mit korrupten Beamten unter verschiedenen Vorwänden Geschäfte und Wohnungen von Christen in Bagdad, Kirkuk und anderen Städten einverleiben. Einem auf Unrecht begründetem Staatswesen droht das gleiche Schicksal wie einem auf sumpfigen Untergrund errichteten Gebäude: Früher oder später geht er unter.
Auch deshalb erbitte ich mir dringend für meine traumatisierten Glaubensbrüder den Besuch von Papst Franziskus.
(Quelle: Sako, Louis Raphaël: Marschiert endlich ein! Stoppt die Ermordung der Christen im Nahen Osten. Ein Aufschrei aus Bagdad. Aufgezeichnet von Pia de Simony, Freiburg i. Br. u. a. 2016, 100f.)
Weitere Informationen, Texte und Videos zur Papstreise unter vatican.va.
Die Hintergrundinformationen wurden zusammengestellt von Thomas Kremer, Joachim Braun und Matthias Emanuel.