Begriffe und Perspektive

Mit dem Begriff „Religion“ wird nicht ein abgesonderter Teilbereich der Gesellschaft bezeichnet, sondern eine das menschliche (Zusammen-)Leben und die Kulturen übergreifende Dimension, in der es um ethisch-normative Prinzipien und deren Herleitung, um existentielle Bindungen und Spiritualitäten, um tragende Gründe und letzte Sinnorientierung im Leben geht. Damit sind einerseits die konkreten Religionen im Blick - in ihren expliziten Bekenntnissen und Lehren wie in ihrer gelebten Religiosität und ihren religiösen Vollzügen. Andererseits wird allgemeiner das Verhältnis zum Unverfügbaren, Unbedingten und Transzendenten adressiert, das auch dort noch thematisiert werden kann, wo Religion explizit abgelehnt wird oder säkulare Deutungen an ihre Stelle treten. In dieser erweiterten Perspektivierung treten Wandel und Transformation des religiösen Feldes besonders deutlich zutage.

Um diese Phänomene und damit verbundene Problematiken zu bearbeiten, ist es erforderlich, die unterschiedlichen Formen der Vergemeinschaftung und Institutionalisierung in den Blick zu nehmen, in denen das Religiöse eine greifbare Gestalt gewinnt. Dieser Aspekt wird mit dem Begriff der „Kirche“ angesprochen. Die Transformationen des religiösen Feldes verändern die Sozial- und Organisationsformen des Religiösen und umgekehrt. In den unterschiedlichen Verständnissen von „Kirche“ spiegeln sich nicht nur die verschiedenen Glaubensweisen und theologischen Denkmodelle der Religionen und Konfessionen, sondern ebenso die kulturellen Deutungsmuster, sozialen Organisationsformen und politischen Modelle eines Kulturraums und einer Zeit. Für die Zuordnung und Vermittlung von Religion und Politik, von Individuum und Gemeinschaft, von Glauben und Wissen(schaft) kommt der Organisationsform des Religiösen zentrale Bedeutung zu. Chancen, Herausforderungen und Probleme religiöser Institutionalisierung lassen sich an der katholischen Kirche, aber nicht allein an ihr, exemplarisch studieren.

Dabei stehen Kirchen und Religionsgemeinschaften nicht einfach der „Gesellschaft“ gegenüber, sondern sie bilden zugleich einen Teil von ihr: Sie nehmen an den gesellschaftlichen Transformationsprozessen teil und üben wiederum Einfluss auf diese aus. Religion vollzieht sich in diesem größeren gesellschaftlichen Zusammenhang, prägt ihn und wird von ihm geprägt. Der Begriff der „Gesellschaft“ zielt auf diesen zugleich umfassenden und gestuften, räumlich wie diachron-historisch differenzierbaren Interaktionsraum, der sich von seiner geschichtlichen, soziokulturellen wie politischen Seite her in den Blick nehmen und untersuchen lässt. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung um die Rolle der Religion in der Gesellschaft, um ihre Institutionalisierungsformen und letztlich auch um die Aufgabe der Theologie im Konzert der Wissenschaften war und ist stets bezogen auf weitergehende gesellschaftliche Transformationsprozesse in ihren lokalen, regionalen, kontinentalen und globalen Ausprägungen.

Mit den drei Begriffen Religion, Kirche, Gesellschaft ist der Gegenstandsbereich der Arbeit am ZRKG umrissen, der unter dem Aspekt des „Wandels“ untersucht wird. Diese formale Perspektive lässt sich mit dem Begriff der Transformation näher spezifizieren. Es geht nicht nur allgemein um Veränderungen, die in der Geschichte ständig ablaufen, sondern primär um jene grundlegenderen Wandlungsprozesse, die den Zugang zur Wirklichkeit, die Form der Weltaneignung und die prägenden Deutungsmuster auf kollektiver Ebene betreffen: Das Selbe kommt anders in den Blick. Dies betrifft Veränderungen der Denk-, Sprach-, Kommunikations-, Lebens-, Sozial- und Rechtsformen. Solchen Transformationsprozessen können sich weder Individuen noch Gesellschaften dauerhaft entziehen. Sie sind als Gestaltungsaufgabe wie in ihren persönlichen, sozialen und politischen Implikationen zu reflektieren. Es stellt sich die Aufgabe, das Unverzichtbare und bleibend Gültige in diesem Wandel je neu zur Geltung zu bringen, indem Traditionen im Rückgang auf die Quellen neu gelesen, aufgearbeitet und angeeignet werden. Dem entspricht ein dynamisches Verständnis von Identität, die weder statisch vorliegt noch willkürlich konstruiert werden kann, sondern in ihren geschichtlichen, sozialen und kulturellen Zusammenhängen je neu hervorgebracht wird. Das Spannungsverhältnis von Kontinuität und Diskontinuität, von Beharrung und Umgestaltung, von Vertrautheit und Fremdheit, von Identifikation und Differenzfähigkeit, aber auch die mit den Veränderungen verbundenen konfliktreichen und komplexen Aushandlungsprozesse zwischen Religion sowie ihren unterschiedlichen Formen der Institutionalisierung und der Gesellschaft in Geschichte und Gegenwart eröffnen vielfältige Forschungsgebiete, die im ZRKG inter- und transdisziplinär bearbeitet werden.

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