Prof. Dr. Verena Schulz

Projekt 1: Rhetorik des Regelbruchs: Erfolgreich gegen die Norm

In der Antike gibt es detaillierte schriftliche Anweisungen zum Vortrag des Redners ab der Zeit der späten römischen Republik. Am ausführlichsten sind sie uns in der Rhetorica ad Herennium und in Quintilians Institutio oratoria überliefert. Hier wird genau vorgegeben, wie Stimme, Mimik und Gestik des Redners richtig eingesetzt werden. Abweichungen von den Regeln werden einerseits klar als Fehler markiert und der Lächerlichkeit preisgegeben. Andererseits kann der Bruch mit Regeln der actio auch einen besonderen Effekt erzielen, der den Vortrag gerade erfolgreich macht.

Das Projekt geht der Frage nach, warum und nach welchen Kriterien Regelbrüche in der actio entweder als Fehler oder als Erfolg bewertet werden: Welche rhetorisch-technischen, sozialen und individuellen Parameter bestimmen, ob die Abweichung von der Norm kritisiert, akzeptiert oder gefeiert wird? Es knüpft an aktuelle Forschungsfragen zum Verhältnis von rhetorischer Theorie und Praxis an und leistet ein Beitrag zum besseren Verständnis der Aushandlung von rhetorischen und sozialen Normen in der späten römischen Republik und frühen Kaiserzeit.

Das Projekt ist Teil eines interdisziplinären Netzwerks, das sich mit Rhetorik und Regelbrüchen befasst. Es wird von Prof. Dr. Nicola Hömke (Rostock) und mir koordiniert. Die zentralen Forschungsfragen, denen wir in diesem Projekt nachgehen, sind: Was macht einen Regelbruch in der Rhetorik erfolgreich? Was unterscheidet den gelingenden, kreativen Regelbruch von einem misslingenden Regelbruch? Welche Effekte und welche Ästhetik zeichnen Regelbrüche aus? Welche moralischen Implikationen begleiten den Regelbruch? Was sagt der Regelbruch aus über den Akteur, ggf. über den Autor und das tatsächliche bzw. konstruierte Publikum?

Das Projekt nimmt insofern das Thema „Dialogkulturen“ auf, als es den wissenschaftlichen Austausch über Fachgrenzen hinaus sucht. Untersucht wird nicht nur die Kommunikation von Rednern/Sprechern mit dem Publikum, sondern auch die dialogische Wechselwirkung zwischen rhetorischer Theorie und Praxis. Der Einbezug moderner Texte und Untersuchungsgegenstände fördert den Dialog der Forschungsergebnisse mit der Gesellschaft insgesamt, der unsere Ergebnisse nicht nur in Form von Publikationen, sondern auch über eine Website und Podcasts zur Verfügung gestellt werden sollen.

Projekt 2: Studienbuch Theorie und Text – Moderne Forschungskonzepte und antike Literatur

In der Klassischen Philologie ist die Beschäftigung mit modernen Ansätzen der Literatur- und Kulturtheorie zentral geworden. WissenschaftlerInnen aller Karrierestufen arbeiten mit Konzepten und Methoden aus anderen Disziplinen. Oftmals sind die Auseinandersetzungen mit nicht genuin klassisch philologischen Theorien aber nicht textnah, d.h. sie tragen weniger zum Verständnis des antiken Textes bei als sie Kenntnis moderner Konzepte und Methoden erkennen lassen. Das vorliegende Projekt hat das Ziel, die Lücke zwischen Theorien und Texten zu schließen zu helfen. Um name dropping zu vermeiden und Texte gewinnbringend zu interpretieren, bedarf es der genauen Kenntnis und Darstellung der Theorien einerseits und der perfekt darauf abgestimmten Textarbeit andererseits. Diese Kombination soll in einem geplanten Studienbuch, das in Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Andreas Schwab (Gräzistik Kiel) entsteht, geleistet werden (siehe auch www.ku.de/fileadmin/1305/F_Archiv/Veranstaltungen/2023/Tagungsprogramm_Kiel-Eichstaett.pdf). Dabei wird auch eine Aktualisierung bestehender moderner Zugänge zu Literatur angestrebt, die in den letzten Jahren stets zahlreicher und differenzierter geworden sind.

Da die einzelnen Arbeiten die Interpretation antiker Texte unter Zuhilfenahme von Konzepten, Methoden und Theorien vorführen, die vergleichbar u.a. in modernen Philologien und in Bildwissenschaften angewandt werden, trägt das Projekt zur Anschlussfähigkeit der Klassischen Philologie an andere Disziplinen bei. Gesucht wird der Dialog zwischen Text und Theorie, zwischen Antike und Moderne. Antike Texte werden durch moderne Zugänge dialogfähig über die Antike hinaus. Transdisziplinär richtet sich das Projekt vor allem an den wissenschaftlichen Nachwuchs.