Verhandlungen des Alltäglichen:

Dialogkulturen (in) der Genremalerei und die Entstehung des sozialanalytischen Sehens (1560-1800)

Dr. Dominik Brabant

Genrebilder, also Darstellungen von Alltagsszenen mit anonymen und typisierten Figuren, leben in vielfacher Hinsicht von (visuellen und diskursiven) Dialogkulturen, die sich von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart erstrecken. Seit dem 16. Jahrhundert arbeiteten Künstler in Gemälden und grafischen Werken an einem sozialanalytischen Blick, mit dem Figuren zunehmend als sozial geprägte Subjekte ins Bild gesetzt wurden – als Wesen also, deren Habitus, Physis, alltägliche Verrichtungen, ja deren biographisches Schicksal durch diejenigen Kräfte des Gesellschaftlichen geprägt wird, die erst die universitäre Soziologie ab dem 19. Jahrhundert in theoretischen Begriffen und Konzepten formuliert hat. Während einerseits in einer Vielzahl von Genreszenen Repräsentationen entstanden sind, in denen die Protagonisten sowie das Ambiente, innerhalb dessen sie agieren, als gesellschaftlich determiniert gekennzeichnet und sie somit einem moralisch-wertenden Blick preisgegeben wurden, haben andererseits Künstler wie etwa Caravaggio nach bildkünstlerischen Strategien gesucht, durch die solche visuelle Regime hinterfragt, unterlaufen oder gar dekonstruiert werden konnten.

Dialogkulturen, wie sie in dem Eichstätter Forschungskolleg untersucht werden, lassen sich in verschiedenen Ebenen und Facetten meines Forschungsprojekts dingfest machen: So stellen Genrewerke von Pieter Bruegel dem Älteren bis zur Kunst der Moderne immer wieder gelingende Szenerien des interpersonalen Dialogs – oder aber dessen Verweigerung, Scheitern oder Aufschub – dar.

Doch dialogisieren die Werke auch in interpikturaler Hinsicht untereinander, insofern zahlreiche Motive, Topoi und Bildstrategien in einem engen Geflecht wechselseitiger Zitate, Aneignungen und transformierender Übernahmen zirkulierten, und zwar zwischen Werken, Oeuvres und ganzen geographischen und epochalen Bildkulturen. Zudem ist die Gattung der Genremalerei, wie die jüngere Forschung zunehmend bemerkt hat, aufgrund der ihr inhärenten semantischen Offenheit in besonderer Weise prädestiniert, angeregte und auch konfliktreiche Dialoge vor den Werken oder im Rahmen eines wissenschaftlichen Diskurses über die jeweiligen Bedeutungen der Werke, ihre Analyse, Interpretation und (kunsthistorische) Einordnung zu provozieren. Die Entstehung und allmähliche Ausdifferenzierung der Genremalerei, aber auch ihre krisenhaften Momente sowie die kunsthistorischen Narrative, die die Beschäftigung mit dieser Gattung hervorgebracht hat, lassen sich zudem im Sinne eines Dialogs zwischen Bild- und Textkünsten, zwischen Visualität und Textualität, zwischen künstlerischem und kunsttheoretischem, kunstkritischem und kunsthistorischem Diskurs begreifen.

Übergreifende Fragen des Forschungsprojekts sind dabei: Wann und durch welche bildkünstlerischen Strategien hat sich in den europäischen Bildkünsten eine Vorstellung von Subjekten als sozialen Wesen etabliert, also als Akteure in einer Welt des Sozialen, in der andere Normen, Strukturen und Prozessen als beispielsweise in der Welt der Sakralen oder der Welt des Mythischen maßgeblich sind – also jenen Sphären, die in der Historienmalerei zur Darstellung gebracht werden? Auf welche Weise wurden in der Genremalerei Formen der Individualisierung, Subjektivierung oder Vergesellschaftung (dies jeweils theoretisch überdeterminierte Begriffe, die im Rahmen meiner Untersuchung eigens historisiert werden müssen) repräsentiert, inszeniert, oder aber mit den Mitteln der Kunst subvertiert? Und schließlich: Wie wurden solche Szenarien der Subjektwerdung und Ent-Subjektivierung in einem kunsttheoretischen, kunstkritischen und kunsthistorischen Dialog überführt und verhandelt, auch wenn solche Begriffe und die mit ihnen einhergehenden theoretischen Konzepte noch nicht verfügbar waren?