Kriege, Klimakatastrophen, Wirtschafts- und Infrastrukturkrisen und anwachsende rechte Bewegungen prägen die Nachrichtenlage. Während sich globale und lokale soziale Ungleichheiten verschärfen, wandeln sich die Konstruktionen über die "Anderen". Das Zentrum Flucht und Migration verband im Wintersemester 2024/25 hochaktuelle Fragen mit einer rassismustheoretischen Perspektive. Auch ohne von "Rassen" zu sprechen, wird in Prozessen der "Rassialisierung" angebliches Wissen über angenommen feststehende, unveränderliche Eigenschaften hervorgebracht. Diese werden etwa mit Kultur, Religion oder geographischer Herkunft begründet. In diesem Sinne ist eher von Rassismen im Plural zu sprechen als von einem einheitlichen Rassismus.
Auf welche Formen von Diskriminierung und Benachteiligung treffen Eingewanderte aus dem östlichen Europa in Deutschland? Wie verhalten sich diese Rassialisierungen, also die Einordnung als per se „andere“, in sich homogene Gruppe, zu anderen Formen von Rassismus? Dazu sprach Aleksandra Lewicki in ihrem Vortrag "Rassialisierung und Ambiguität: Ost-West-Asymmetrien und -Mobilitäten in Europa" am 19. November 2024. Damit eröffnete sie unsere Vorlesungsreihe „Rassismen im Wandel“. Lewicki leitet das „Sussex European Institute“ und ist „Reader in Sociology“ an der University of Sussex. Lewicki führte aus, wie inkohärent in Westeuropa Bestimmungen davon sind, wo „Osteuropa“ liegt und veranschaulichte dies am Beispiel verschiedener Karten, die in Massenmedien, etwa von der BBC, gezeigt werden. Lewicki ging auf Beispiele lang tradierter, oft wiederholter, stereotyper Bilder in Bezug auf Menschen aus dem östlichen Europa ein. Auch das Ausmaß nationalsozialistischer Verbrechen an der Zivilbevölkerung, beispielsweise in Polen, Ukraine und Russland, werde oft ausgeblendet. Auch das Publikum meldete in Bezug auf anti-osteuropäische Vorstellungen zu Wort. Eine Zuhörerin merkte an: „Ich kann es nicht glauben, dass in so vielen deutschen Krimis eine osteuropäische Frau stirbt“. Zudem wurde diskutiert, ob und wenn, wie gut, osteuropäische Migrantinnen und Migranten „passen“ können, also nicht als „anders“ erkannt und markiert werden. Auch wenn Migration aus dem östlichen Europa als privilegiert gelten mag, machte Lewicki deutlich, wie ambig, also vieldeutig, die Rassialisierung von Migrantinnen und Migranten aus dem östlichen Europa ist: Sie werden zwar als „Europäerinnen und Europäer“ und als weiß eingeordnet – und dennoch in eine rassistische Hierarchie eingepasst. Ein weiterer Aspekt von Lewickis Vortrag war, wie Status und Situation von Geflüchteten aus Ukraine sind, auch im Vergleich zu Menschen, denen Asyl gewährt wird. Zudem wurde besprochen, wie unterschiedlich Migrationsgeschichten sind: Diese Rassialisierungen können Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler aus Kasachstan, Arbeiterinnen und Arbeiter aus EU-Ländern, jüdische Kontingentflüchtlinge, Musliminnen und Muslime ebenso wie Romnj*a usw. treffen. Zudem stellte Lewicki bekannte theoretische Konzepte zur Diskussion, die versuchen, diese Phänomene zu erklären.
Lässt sich das Konzept des Institutionellen Rassismus auf antisemitische Ausschlüsse anwenden und damit ein Institutioneller Antisemitismus zeigen? Inwiefern lassen sich Praktiken des Ausschlusses als eine institutionelle Reproduktion von Antisemitismus beschreiben? Wird Antisemitismus ähnlich wie Rassismus auf institutioneller Ebene, also jenseits individuellen Handelns einzelner Akteure, sichtbar und dort reproduziert? Diese Fragen diskutierten Dr. Sina Arnold (Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin) und Prof. Juliane Karakayali (Evangelischen Hochschule Berlin) am 17. Dezember 2024 gemeinsam mit den rund 30 Teilnehmenden der Gesprächsreihe „In Gesellschaft: Rassismen im Wandel“. Eingeladen war die interessierte Öffentlichkeit zum zweiten Vortrag in der Reihe im WiSe 2024/25 zum Thema „Institutioneller Antisemitismus. Eine rassismustheoretische Übertragung für die Praxis".
Arnold und Karakayali begründen zu Beginn, warum es zu Ausblendungen von Antisemitismus als diskriminatorische Alltagserfahrung in der Forschung kommt. Zum einen gäbe eine Fokussierung auf antisemitische Einstellungen und Haltungen und auf Individuen. Zum anderen würden antisemitische Vorfälle mittels gewalttätiger Angriffe statistisch festgehalten. Unsichtbar bleiben dabei jedoch subtilere, weil von einem individuellen Akteur unabhängige und damit institutionelle Praxen des Ausschlusses. Darüber hinaus zeigen sich Leerstellen in der Forschung an der Schnittstelle von Migrationserfahrungen und Antisemitismuserfahrungen. Die beiden wollen den Blick weiten und Antisemitismus und Rassismus nicht (nur) aus einer individualisierenden Perspektive betrachten, sondern die Reproduktionen der Ideologien als antisemitische und rassistische Ausschlüsse im Organisationshandeln analysieren. Dazu stellten sie Ergebnisse einer Metaanalyse von 14 Studien vor, die Antisemitismus im Kontext Schule thematisieren.
Die empirischen Daten der Studien wurden daraufhin untersucht, ob sich Hinweise auf Praktiken finden, die sich als Institutioneller Antisemitismus beschreiben lassen. Die beiden kommen zu dem Ergebnis, dass (1) ähnlich wie im Rassismus Wir-Sie-Unterscheidungen vorgenommen werden und (2) eine sogenannte „Gojnormativität“ in Schulbüchern zum Tragen kommt. Sie weisen auf (3) vorhandenes antisemitisches Wissen und Handeln von Lehrkräften ebenso wie auf (4) Diskriminierungserfahrungen von jüdischen Schülerinnen und Schülern und Lehrerinnen und Lehrern hin. Auch, wenn sich – so Arnold und Karakayali – kein expliziter institutioneller Antisemitismus in den Daten der 14 Studien finden lässt, so hält Schule als Organisation jedoch Praktiken der Abwehr, Umdeutung und Bagatellisierung von Antisemitismus aufrecht. Nach einer interessierten Diskussion mit den Zuhörerenden enden die beiden ihren Vortrag mit dem Hinweis, dass empirische Studien und damit weiter Erkenntnisse zum Konzept des Institutionellen Antisemitismus noch ausstehend sind – vor allem dort, wo sich diskriminierende Erfahrungen aufgrund von Migrationsgeschichte und Jüdischsein überschneiden.
Am 28. Januar 2025 verdeutlichte Dr. Johannes Siegmund den Scheideweg in die menschliche Zukunft: Klimarassismus oder Klimasolidarität? Anhand der Überflutungen nach Hurrikan Katrina erläuterte er, wie entweder in New Orleans einerseits mit rassistischen Zuschreibungen, Gewalt und Bewaffnung reagiert wurde, andererseits solidarische Strukturen unter den Betroffenen und mit ihnen entstanden waren. Er plädiert für Solidarität über soziale Grenzen hinweg, womit Siegmund nicht nur Zärtlichkeit, sondern auch konstruktiven Streit versteht.