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Der 11. November 724 markiert für den angelsächsischen Mönch Willibald einen der ganz besonderen Tage seines Lebens: Am Martinsfest kommt er an das lang ersehnte Ziel seiner Pilgerschaft und betritt die Heilige Stadt Jerusalem. Über seine Pilgerreise sind wir bestens informiert dank der Vita, welche die Nonne Hugeburc von Heidenheim 778 aufzeichnete, unmittelbar nachdem ihr der bereits betagte Bischof von Eichstätt rund 50 Jahre nach seiner Rückkehr aus dem Heiligen Land ausführlich darüber berichtete.
Pilgerreisen nach Jerusalem waren seit dem 4. Jahrhundert keine Seltenheit, erlebte doch das Heilige Land einen regelrechten Pilgerboom. Das Römisch-Byzantinische Großreich verfügte über eine vorzügliche Infrastruktur und ermöglichte freies Reisen über die Grenzen hinweg. Jerusalem, die Heiligen Stätten und die Klöster – vor allem in Gaza und in der Wüste Juda – waren die Orte schlechthin, an denen sich die damalige Weltkirche begegnete. Doch nur vergleichsweise wenige haben uns genaue Aufzeichnungen ihrer Eindrücke hinterlassen.
Das Besondere der Vita Willibaldi besteht darin, dass sie uns besondere Einblicke vermittelt in die Situation des Heiligen Landes in der frühmuslimischen Zeit unter den Umayyaden. Die Zeiten hatten sich im Vergleich zur Spätantike vollkommen gewandelt. Muslimische Herrscher haben die Byzantiner verdrängt. Die Silhouette Jerusalems wird dominiert von dem gerade erst 30 Jahre alten Felsendom. Die christlichen Pilger sind wenige geworden, nicht zuletzt wegen der Unwägbarkeiten einer Reise und den bürokratischen Hürden. So musste Willibald gleich dreimal im syrischen Homs vorstellig werden, um Aufenthaltsgenehmigungen zu beantragen und verlängern zu lassen.
Die auf den ersten Blick eher unscheinbar wirkende Vita Willibaldi hat es in sich. Sieht man sie im Licht ihrer Zeit und im Kontext anderer zeitgenössischer Quellen, so ermöglichst sie der Forschung, umfangreiche Aussagen ganz unterschiedlicher Art zu treffen. Wie stand es um das Pilgerwesen im 8. Jahrhundert und wie ist das Itinerar Willibalds zu deuten? Wie war die Situation der Christen im Nahen Osten in frühmuslimischer Zeit? Wie hat sich Jerusalem durch die neuen Herrscher gewandelt? Diese und viele andere Fragen finden ihre Antwort in der Vita des Willibald.
Um all dem nachzugehen, was Willibald uns über Jerusalem zu seiner Zeit verrät, hat am 11. November 2024 in Jerusalem eine wissenschaftliche Tagung unter dem Titel „Erinnerung an Willibald von Eichstätts Ankunft in Jerusalem“ stattgefunden, welche von Abt Dr. Nikodemus Schnabel (Dormitio-Abtei, Jerusalem), Dr. Rodney Aist (St George’s College, Jerusalem) und Dr. Georg Röwekamp (Pilgerhaus Tabgha) initiiert wurde. Eine Reihe von Wissenschaftlern präsentierten ihre Beiträge zur Willibald-Forschung, indem Fragen nach dem Leben des Heiligen, der Einordnung seines Pilgerweges in mittelalterliche Konzeptionen von Pilgerreisen, der textlichen Genese seiner Vita, seiner Beschreibung Jerusalems und seiner Bedeutung für die Gegenwart nachgegangen wurde. Prof. Dr. Thomas Kremer referierte per Videozuschaltung über die Implikationen der genauen Pilgerroute Willibalds, wodurch insbesondere Einblicke in die Pilgertopographie des 8. Jahrhunderts ermöglicht wurden. Der Angelsachse und Heilig-Land-Pilger Willibald, der u. a. in Rom, Konstantinopel und Monte Cassino lebte, ehe er Bischof von Eichstätt wurde, erschien dabei geradezu im Lichte eines „Proto-Europäers“. Die Tagung wurde gerahmt von gemeinsamen Gottesdiensten in der Dormitio-Abtei, und am 12. November wurde sie fortgesetzt durch einen Rundgang durch Jerusalem, bei dem vier der von Willibald beschriebenen Orte unmittelbar aufgesucht wurden (Anastasis, Bethesdateiche, Mariengrab und Kirche der Nationen). Vertreter der Gemeinschaften, die sich heute um diese Stätten kümmern, empfingen die Gruppe.
Im Nachgang der Tagung werden die Beiträge nun in einem Sammelband am Lehrstuhl für Theologie des Christlichen Ostens der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt in der wissenschaftlichen Reihe „Koinonia–Oriens“ veröffentlicht. Während sich die Theologische Fakultät in Eichstätt derzeit auf ostkirchliche Studien spezialisiert und sich zu einem Zentrum für die Wissenschaft vom Christlichen Orient etabliert, stellt die Willibald-Forschung passend heraus, dass bereits der Gründerbischof der Diözese Eichstätt durch seine Pilgerreise und einen mehrjährigen Aufenthalt im Orient auf intensivste Weise dem Christlichen Osten begegnet und zeitlebens verbunden geblieben ist.
Zum Weiterlesen: Programm der Tagung