Vergangene Wintervortragsreihen an der KU

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2022/23

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KU Wintervortragsreihe 2022/2023

Feminismen im globalen Kontext. Perspektiven, Bewegungen, Beziehungen.

Die gemeinsame interdisziplinäre Ringvorlesung der Eichstätter Wintervortragsreihe und des Zentralinstituts für Lateinamerikastudien (ZILAS) der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt setzt sich mit dem Phänomen Feminismen im globalen Kontext interdisziplinär auseinander und behandelt es aus geographischer, politikwissenschaftlicher, historischer, literaturwissenschaftlicher, anthropologischer, sprachwissenschaftlicher und nachhaltigkeitswissenschaftlicher Perspektive.

Feministische Gedanken formulierte schon Christine de Pizan mit ihrem Buch von der Stadt der Frauen (1405). Der organisierte Einsatz für Frauenrechte begann mit der Französischen Revolution. Diese erste Welle endete mit dem Ersten Weltkrieg, als eines ihrer wichtigsten Ziele – nämlich das Wahlrecht für die meisten Frauen in Europa und den USA – erreicht war. Nach dem Zweiten Weltkrieg formierte sich ausgehend von Studentenbewegungen eine zweite Welle, die von den USA aus Westeuropa erfasste. Diese Welle kämpfte für sexuelle Befreiung und widmete sich der Entwicklung einer autonomen weiblichen Gegenkultur in Form von Frauenhäusern, Frauennotrufen, -verlagen, -zeitschriften und -kulturprojekten. Ab den 1990er Jahren entstand eine dritte Welle, die ausgehend von Judith Butlers Gender Trouble (1990) die Unterscheidung von biologischem und sozialem Geschlecht in Frage stellte. Und heutzutage? Stehen wir im Zeitalter von #MeToo, womens's marches und #HeForShe am Beginn einer vierten Welle? Oder befinden wir uns inmitten von Postfemininismen und neuen Backlashes? Das Internet und die neuen globalen Herausforderungen ermöglichen und erfordern eine zunehmende Internationalisierung feministischer Anliegen. Doch was wissen wir über lateinamerikanische, karibische und US-amerikanische feministische Bewegungen? Wie stark sind verschiedene nationale Bewegungen global vernetzt? Was tragen diese Vernetzungen zur Begegnung und Annäherung unterschiedlicher Feminismen bei? Wie verändert sich unser Blick auf frühere feministische Bewegungen, wenn wir sie aus globaler Sicht betrachten? Mit der globalen Vernetzung und Kontextualisierung vergangener und heutiger Feminismen befasst sich die diesjährige Vortragsreihe.

Mit Vorträgen zu reproduktiver Geopolitik, Genderlinguistik, Geschlecht und Nachhaltigkeit und feministischen Forderungen aus Lateinamerika und anderen mehr bietet die Ringvorlesung einen interdisziplinären Überblick über feministische globale Zusammenhänge. 

2021/22

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Wintervortragsreihe_21-22

Die gemeinsame interdisziplinäre Ringvorlesung der Eichstätter Wintervortragsreihe und des Zentralinstituts für Lateinamerikastudien (ZILAS) findet im kommenden Wintersemester zum Thema  «Ökologie und Posthumanismus. Vom  Anthropozän zum Chthuluzän» statt. Sie setzt sich mit den Phänomenen Ökologie und Posthumanismus interdisziplinär auseinander und behandelt sie aus politikwissenschaftlicher, historischer, literaturwissenschaftlicher, medienkomparatistischer und soziologischer Perspektive.

Ökologische Fragen gehören zu den brennendsten Problematiken unserer Zeit. Klimawandel und Artensterben stellen große Bedrohungen dar, angesichts derer globale Anstrengungen zur Dekarbonisierung und zur Erhaltung weltweit wichtiger Ökosysteme getroffen werden müssen. Das Anthropozän, das Zeitalter, in dem der Mensch zum dominanten umweltprägenden Faktor wird, ist längst angebrochen. Genau aus diesen Problematiken heraus muss über die technologisch vermittelte Macht des Menschen und ihre tödlichen Folgen nachgedacht werden. Ein möglicher Perspektivwechsel stellt ein kritischer Posthumanismus dar, der den Menschen nicht mehr ins Zentrum setzt, sondern im Zusammenhang mit einer Vielzahl nichtmenschlicher Kräfte sieht. Der Mensch als Maß aller Dinge muss zurücktreten zugunsten einer stärker egalitären Beziehung der Arten untereinander. Dies symbolisiert das Chthuluzän als utopisches neues Zeitalter einer artenübergreifenden Kooperation und Kommunikation.

Mit Vorträgen zu anthropozäner Literatur, zu Biotechnologie und Dekarbonisierung, zu radioaktiven Abfällen, zu Migration im Post-Anthropozän und anderen mehr bietet die diesjährige Ringvorlesung einen interdisziplinären Überblick über ökologische und posthumanistische globale Zusammenhänge. 

2020/21

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KU_Wintervortragsreihe_20-21

(Post-)Koloniale Welten: Umschreiben und Umkartieren hegemonialer Verhältnisse

Die gemeinsame interdisziplinäre Ringvorlesung der Eichstätter Wintervortragsreihe und des Zentralinstituts für Lateinamerikastudien (ZILAS) setzt sich im Wintersemester 2020/21 mit «(Post-)Kolonialen Welten: Umschreiben und Umkartieren hegemonialer Verhältnisse» auseinander und nähert sich dem Phänomen aus historischer, geographischer, literaturwissenschaftlicher, soziologischer und kulturtheoretischer Perspektive an.

Koloniale Verhältnisse und ihre postkolonialen Folgen prägen seit der Frühen Neuzeit die Welt und finden angesichts von Widerstandsbewegungen wie Black Lives Matter und Denkmalstürzen aktuell vermehrt mediale Aufmerksamkeit. Dabei gerät die Notwendigkeit eines Umschreibens traditioneller hegemonialer Geschichtsschreibung und des Umkartierens kolonialer Geographien zunehmend in den Fokus. 

Erhöhte Sensibilität für Gerechtigkeits- und Verteilungsfragen sowie die zunehmend kritische Reflexion von Geschichtsschreibung, literarischen und kartographischen Darstellungsweisen führen zu neuen Darstellungs- und Präsentationsformen bis hin zum Umbenennen von Plätzen, Straßen, historischen Ereignissen und dem Umschreiben von literarischen Mythen. Die Erkenntnis, dass das Erbe des Kolonialismus bis heute Krieg, Hunger, Armut und Ausbeutung schafft und internationale Flüchtlingsbewegungen auslöst, führt zu einem Infragestellen vorhandener Machtverhältnisse und zum Ruf nach neuen, gerechteren Sicht- und Handlungsweisen.

Mit Vorträgen zum Erbe der Sklaverei in England, zur postkolonialen Literatur Siziliens, zu Black Lives Matter, zu Widerstandsbewegungen indigener Bevölkerung Südamerikas und zu NGOs in Afrika und anderen mehr bietet die diesjährige Ringvorlesung einen interdisziplinären Überblick über koloniale und postkoloniale globale Zusammenhänge.

2019/20

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KU_Wintervortragsreihe_19-20

Utopien und Dystopien - Historische Wurzeln und Gegenwart von Paradies und Katastrophe

Die Eichstätter Wintervortragsreihe 2019/2020 setzt sich mit "Utopien und Dystopien: Historische Wurzeln und Gegenwart von Paradies und Katastrophe" interdisziplinär auseinander und nähert sich dem Phänomen aus historischer und wirtschaftsethischer, aber auch aus medienwissenschaftlicher, sprachlicher sowie religiöser Perspektive an. Utopische und dystopische Szenarien beschäftigen die Menschheit schon lange und finden angesichts brennender Problematiken der Gegenwart wieder verstärkt Interesse. Dabei werden dystopische Nachrichten zum Zustand der Umwelt, der Welternährung oder der technischen Entwicklung häufig zum Auslöser für utopische Zukunftslösungen, während das utopische Potential des Silicon Valley etwa in dystopische Szenarien kippen kann. Utopie und Dystopie bilden somit eine Kippfigur. Die Übergänge zwischen technischen und naturwissenschaftlichen Erfindungen zu künstlerischen Visionen erweisen sich ebenfalls häufig als fließend. Ist, was bei Orwell stand, schon Wirklichkeit geworden? Spielen wir die Computerspiele "Deus Ex" und "Papers, Please" noch oder werden sie schon gelebt? Mit Vorträgen zu Klimaforschung, künstlicher Intelligenz, Demokratieforschung, Future Fiction, Games Studies und anderen mehr bietet die diesjährige Eichstätter Wintervortragsreihe einen interdisziplinären Überblick über Untergangsängste und Zukunftshoffnungen.

2018/19

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KU_Wintervortragsreihe_18-19

Populismus

Ob in der Tagespresse, in Diskussionsrunden oder in den Foren des World Wide Web – kaum ein Begriff wurde in den letzten Jahren so oft und kontrovers diskutiert wie der des „Populismus“. Dabei beginnt der Konflikt bereits bei der Suche nach einer gültigen Definition, denn häufig endet dieses Unterfangen auch unter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in gegenseitigen Vorwürfen, selbst populistisch zu sein. Der Ausdruck wird einerseits genutzt, um dem politischen
Gegner eine verzerrte und simplifizierte Argumentationsweise zu attestieren. Gleichzeitig gilt er anderseits als inflationär verwendetes Totschlagargument, um den Gegner zu diskreditieren, wenn keine konstruktiven und stichhaltigen Gegenargumente vorgebracht werden können. Und nicht zuletzt wird in der Debatte auch immer wieder der Einwurf gebracht, dass es auch „gute“ Formen von Populismus gebe, da die Botschaften ja schließlich an das Volk, den „populus“, gerichtet seien. So handelt es sich letztlich um ein oft unspezifisch verwendetes Schlagwort, dessen Verwendung von der Beschreibung einer Form der politischen Rhetorik bis hin zur Anprangerung rassistischer und antidemokratischer Weltanschauungen reichen kann.

Die Eichstätter Wintervortragsreihe 2018/2019 will sich daher mit diesem Phänomen interdisziplinär auseinandersetzen und sich ihm aus historischer aus historischer und politischer, aber auch aus sprachlicher sowie religiöser Perspektive nähern.

Was ist also Populismus? Ist er gleichbedeutend mit Volksverhetzung? Sind Populisten automatisch Demagogen? Gibt es wirklich den„guten“ Populismus? Ist jemand, der „guten“ Populismus zu erkennen glaubt, erst recht ein Populist? Sind die westlichen Demokratien von Populismus ernsthaft gefährdet oder müssen vielleicht Politikerinnen und Politiker in der heutigen komplexen Welt immer ein Stück populistisch sein, um für die Mehrheit der Bevölkerung überhaupt noch verständlich Informationen vermitteln zu können? Drückt die Anfälligkeit für Populismus die Sehnsucht nach einer überschaubareren Welt aus? Ist Populismus tatsächlich ein neues Phänomen oder wird er nur neu wahrgenommen? Sind nicht letztlich oft die emotional aufgeladenen Diskussionsgegenstände ein Grund dafür, dass unliebsame Argumente als populistisch wahrgenommen werden? Die Organisatorinnen und Organisatoren der kommenden Eichstätter Wintervortragsreihe wollen mit ihren Referentinnen und Referenten diesen Fragenkomplex erörtern und freuen sich zudem auf eine engagierte Diskussion mit dem Publikum.

arrow right iconBuchveröffentlichung: Marina Fleck, Tobias Hirschmüller und Thomas Hoffmann, eds. 2020. Populismus: Kontroversen und Perspektiven – Ein wissenschaftliches Gesprächsangebot. München: Akademischen Verlagsgemeinschaft München. https://www.avm-verlag.de/res/user/avm/media/9783960915669-fleck-populismus.pdf

2017/18

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Protest

Protest

Der im Titel der diesjährigen Wintervortragsreihe mitschwin- gende Imperativ verweist auf den Nachdruck, mit dem Men- schen ihrer Meinung oft gerade dann Ausdruck verleihen, wenn sie den vorherrschenden Begebenheiten entgegensteht. Dabei muss Protest nicht immer laut sein, sondern kann auch leise vonstattengehen. Seine Formen sind mannigfaltig und reichen von Demonstrationen, Streiks, Blockaden, Besetzun- gen und Boykotts bis hin zu zivilem Ungehorsam und Guerilla-Aktionen, zur äußeren oder inneren Emigration sowie dem kreativen Ausdruck des Protests in Literatur, Kunst und Musik. Neben den realen Schauplätzen des Aufstands bietet heute die virtuelle Welt ein scheinbar grenzenloses Forum zur Meinungsäußerung, die dort von Online-Petitionen bis hin zum ungezügelten Shitstorm reichen kann. Ob individuell oder kol- lektiv, organisiert oder spontan, gewaltsam oder friedlich – mit dem Parteiergreifen für eine bestimmte Position geht immer auch eine Positionierung gegen andere Ansichten einher. 

Meinungsvielfalt ist – ebenso wie das Recht auf freie Mei- nungsäußerung – grundlegender Bestandteil von Demokratie und gesellschaftlicher Teilhabe. Protest als eine Form der gesellschaftlichen Partizipation hat in den vergangenen Jahrhunderten viele politische, religiöse und kulturelle Veränderungen eingeleitet, bisweilen sogar zu um- fassenden gesellschaftlichen Umwälzungen geführt. So jährt sich beispielsweise die Reformation 2017 zum 500. Mal, 2018 liegt die Studentenrevolte der 68er fünfzig Jahre zurück. Darü- ber hinaus verdeutlichen Ereignisse wie der Arabische Früh- ling, die Occupy-Bewegung, PEGIDA oder auch die Aufleh- nung gegen den G20-Gipfel im Sommer dieses Jahres, dass gesellschaftlicher Wandel durch Protest nicht nur historisch von Bedeutung war, sondern dass Proteste zugleich eine hochaktuelle Thematik sind. All das bietet Anlass, das vielge- staltige Phänomen des Protests in seiner historischen und ge- genwärtigen Relevanz sowie ethischen Ambivalenz zu be- leuchten, was sich die Eichstätter Wintervortragsreihe mit ihrer traditionell interdisziplinären Herangehensweise in diesem Se- mester zum Ziel gesetzt hat

2016/17

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Grenzen

Grenzen

«Ich habe zuerst gedacht, Grenzen seien Gartenzäune, so hoch wie der Himmel. Aber das war dumm von mir, denn dann könnten ja keine Züge durchfahren. Eine Grenze ist auch keine Erde, denn sonst könnte man sich ja einfach mitten auf die Grenze setzen oder auf ihr herumlaufen, wenn man aus dem ersten Land ’rausmuss und in das andere nicht ’reindarf. Dann würde man eben mitten auf der Grenze bleiben, sich eine Hütte bauen und da leben und den Ländern links und rechts die Zunge ’rausstrecken. Aber eine Grenze besteht aus gar nichts, worauf man treten kann.»

Diese Gedanken formuliert die junge Kully in Irmgard Keuns Exilroman Kind aller Länder, der erstmals im Jahr 1938 erschien – in einer Zeit mithin, in der viele Vertriebene und Verfolgte wie die Schriftstellerin selbst existentiell darauf angewiesen waren, über jene Staatsgrenzen gelassen zu werden, die im Erleben der Romanfigur materiell gar nicht vorhanden sind. Nicht nur hinsichtlich der Not der Menschen, die zum Verlassen ihrer Heimat und zur Asylsuche gezwungen sind, wecken Kullys Überlegungen Assoziationen zur Gegenwart des 21. Jahrhunderts, und nicht nur die tagespolitische Aktualität des Begriffs ‹Grenze› frappiert den heutigen Leser. Auch lässt – gerade angesichts solcher Lebenswichtigkeit von Ländergrenzen für Massen von Flüchtlingen damals wie heute – die Erkenntnis des Ungreifbaren, Diffusen, manchmal auch Willkürlichen ausgerechnet dieser doch auf den ersten Blick so klar definierten und so konkret funktionalen Grenzen aufhorchen. Mit literarischen Mitteln scheint hier ein Hauptproblem unserer Zeit aufgeworfen. Denn die paradigmatische Frage der Epoche «Wo ziehen wir unsere Grenzen?» umfasst, gleich auf welche Art von Grenzen sie bezogen ist, weit mehr als die Frage nach physisch begehbaren Räumen und administrativ handhabbar gemachten Einheiten. Grenzziehungen und Entgrenzungen sind immer auch Ausdruck historischer oder aktueller Machtansprüche; sie sind immer auch Teil politischer, sozialer und individueller Identitätssuche.

Offenbar ist das Wort ‹Grenze› so vielfältig konzeptionalisierbar und so reflexionsbedürftig, dass sich eine interdisziplinäre Annäherung geradezu anbietet. Wenn die Neuzeit bis heute auch als Streben des Menschen nach seiner Befreiung – aus sozialer Ungerechtigkeit, aus religiöser Unterdrückung, aus ästhetischen Normen, aus Geschlechterrollen oder auch den Zwängen des biologischen Geschlechts – beschreibbar ist, umfasst diese Selbstbefreiung notwendig den Akt der Grenzüberwindung. Das Bewusstsein von solchen nicht immer positiv konnotierten, sondern durchaus auch ambivalent erscheinenden Überwindungen schlägt sich mannigfaltig in Literatur und Kunst wie in allen anderen gesellschaftlichen Diskursen nieder. Hinzu kommt, dass es Grenzen, wie auch immer sie erlebt oder definiert werden, zwar von jeher gegeben zu haben scheint, dass sie in der modernen Realität aber zunehmend bedeutsamer werden, obwohl oder gerade weil sie allenthalben fallen. Bedenkt man etwa, dass die Welt, wie wir sie heute kennen, zu einem Großteil entstanden ist, weil Europäer zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert Grenzen überwunden haben, die ihnen geographisch und geistig (religiös, ideologisch, technisch, psychologisch) gesetzt waren, kann man behaupten, dass eine europäische Identität weniger durch die auf dem Kontinent teils doch sehr verschiedenen Kulturen, Religionen oder Grundsätze der Menschenwürde geprägt ist als vielmehr durch die jahrhundertelang ständig und mit unterschiedlichen Zielen in die Praxis übertragene Vorstellung, potentiell an jedem Ort  der  Erde  sein  zu  dürfen.  Eine  Fülle  von  Beispielen  aus  der  Medizin,  von  der  Sterbehilfe  bis  zum  Self-­‐Tracking  mit Fitness-­‐App,  zeigt  ihrerseits,  wie  –  den  neu  oder  wieder  errichteten  Grenzzäunen  zum  Trotz  –  andere  Grenztypen überwunden  oder  aufgegeben  werden  und  wie  eng  ‹Grenzprobleme›  mit  der  ethisch-­‐philosophischen  Frage  nach  der Definition des Menschen überhaupt verwoben sein können.

Nicht zuletzt aufgrund dieser Komplexität nimmt sich die diesjährige Eichstätter Wintervortragsreihe vor, mit Vorträgen u.a.  aus  Philosophie,  Theologie  und  Literaturwissenschaft,  Geschichte,  Geographie,  Musik-­‐  und  Kunstwissenschaft unterschiedlichste Grenzen über Fächergrenzen hinaus zu erkunden.

arrow right iconBuchveröffentlichung "Grenzen. Annäherungen an einen transdisziplinären Gegenstand" ISBN: 978-3-8260-6516-3, Autor: Kuhn, Barbara / Winter, Ursula (Hrsg.),  Erscheinungsjahr: 2019

2015/16

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Geld

Geld – Wert und Werte

Was ist Geld? Wendet man sich mit dieser Frage an die Wirtschaftswissenschaft, so muss man feststellen, dass das damit angesprochene Problem innerhalb der Fachdiskussion kaum eine Rolle spielt. Als empirisch orientierte Wissenschaft interessiert sich die moderne Ökonomie in erster Linie dafür, wie Wirtschaftsprozesse funktionieren und welche Rolle dem Geld dabei zukommt; Wesens- und Grundsatzfragen überlässt sie jedoch anderen Disziplinen. Viele Definitionen bestimmen Geld daher nur funktional, und auf die Was-ist-Frage findet man die lapidare Antwort: Geld ist alles, was die Geldfunktion erfüllt – ganz gleich ob Muscheln, Edelmetall oder bedrucktes Papier.

Wenn der Wert des Geldes jedoch nicht (mehr) darauf beruht, dass es aus einem wertvollen Material gefertigt ist, wenn es sich im Laufe seiner Geschichte erst zu einem geprägten Papier und dann zu einer bloßen Zahl auf einem Bildschirm verflüchtigt hat, wie kommt es dann, dass es als Tauschmittel überhaupt anerkannt wird? Ist der Wert des Geldes von seiner Substanz unabhängig, muss man sicher sein können, dass es jederzeit gegen Waren eintauschbar ist. Das Vertrauen in den Wert des Geldes ist deshalb eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass der Austausch überhaupt zustande kommt. Solange das funktioniert, fällt uns dabei nichts weiter auf, doch beginnt man, derart grundsätzlich über die Fundamente unseres Wirtschaftens nachzudenken, so zeigt sich, dass das Geld, so vertraut uns der Klang der Münzen und das Rascheln der Scheine im Portemonnaie auch erscheinen mag, nicht weniger ist als – ein großes Rätsel. Sollte das Geld seinen Wert nur dadurch haben, dass alle ihm einen Wert beimessen? Handelt es sich bei dem Vertrauen in das Geldsystem etwa nur um eine kollektive Fiktion?

Dass dieser Gedanke zutiefst beunruhigend ist, liegt auf der Hand; er führt aber auch zu einer neuen Perspektive auf das Geld, die aus dem engen Bereich der Ökonomie hinausführt. In seiner Funktion, Wert(e) zu messen und auszudrücken, zwischen Waren und Bedürfnissen zu vermitteln und Geschäftspartner miteinander zu verbinden, erscheint es als ein Medium, das unsere Beziehungen zur Welt und zu unseren Mitmenschen entscheidend mitbestimmt, und nicht bloß als ein Werkzeug des wirtschaftlichen Austauschs. Wie schon die semantische Nähe von Schuld und Schulden, Wert und Werten, Kredit und Glauben suggeriert, hat das Geld mit Bereichen wie Religion und Ethik vielleicht mehr gemeinsam, als man auf den ersten Blick denkt. Wenn das Geld jedoch mit einer bestimmten Denkweise, einer Logik verknüpft ist, dann eröffnet sich ein weites Feld von Fragen, die seine Auswirkungen auf die soziale Organisation, das menschliche Zusammenleben und auch das Denken selbst betreffen. Wie verhält sich das Geld zu den Bewertungen, die wir vornehmen – drückt es sie lediglich aus oder wirkt es auf sie zurück? Welchen Wert messen wir dem Geld selbst in unserer Gesellschaft bei? Gibt es Güter, deren Wert nicht in Geld gemessen werden kann, und wenn ja, warum? Um Fragen wie diese zu beantworten, bedarf es eines mehrdimensionalen Ansatzes, der Geld nicht nur als Wirtschaftsfaktor betrachtet, sondern als Kulturphänomen. In diesem Sinne will sich die diesjährige Wintervortragsreihe auf die Spuren des Geldes begeben und der Lösung seines Rätsels ein wenig näher kommen, das sich in verschiedenen Gestalten zeigt: in seinem Ursprung und seiner Wirkung, seinem Prinzip und seinen Pathologien – in seinem Verhältnis zu Wert und Werten.

arrow right iconBuchveröffentlichung: "Geld - Wert und Werte. Interdisziplinäre Annäherungen an ein Kulturphänomen.", ISBN: 978-3-8260-6084-7, Autor: Schlitte, Annika / Denzler, Alexander / Huditz, Franziska (Hrsg.), Erscheinungsjahr: 2017

2014/15

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Venedig

Venedig

Auf der Welt kommt ihr nichts gleich, dem Willen des Himmels verdankt sie der Legende nach ihr Bestehen – jene Stadt mit den Straßen aus Wasser, die sich unmittelbar aus dem adriatischen Meer zu erheben scheint. Ebenso singulär wie die Topographie Venedigs ist seine Geschichte. Jahrhundertelang ist es die glanzvolle Kapitale einer im Mittelalter gegründeten Adelsrepublik, der Serenissima Repubblica di Venezia, die sich als einzige unter den italienischen Staaten durch die Epochen hindurch unter keine Fremdherrschaft zwingen lässt. Im Gegenteil wird sie zur Herrin der Adria, zu einer den Okzident mit dem Orient verbindenden Kolonial- und Handelsmacht, deren transkulturelle Physiognomie sich auf mannigfaltige Weise in der Bevölkerung und der Architektur ihrer Hauptstadt spiegelt. So siedeln sich etwa jüdische und griechische Gemeinden an, die mit ihren besonderen Lebensgewohnheiten bis heute ganze Viertel prägen. Und bereits die vom Meer aus weithin sichtbaren architektonischen Wahrzeichen der stolzen Republik, der Dogenpalast und der Markusdom, integrieren wie zahlreiche andere Profan- und Sakralbauten Venedigs byzantinische und orientalische Formensprachen in ihre Pracht aus Marmor und Gold.

Die Hegemonie über das Mittelmeer, die sich die Serenissima durch kluge Außenpolitik und geschickte militärische Allianzen bis zum Anfang des 16. Jahrhunderts bewahrt, bringt eine spezifische venezianische Identität hervor, die sich ihrer selbst in Zeremonien wie der alljährlich stattfindenden rituellen Vermählung des Dogen mit dem Meer vergewissert. Zahlreiche regelmäßig veranstaltete Feste, zu denen nicht zuletzt der Karneval oder die Prozessionen über das Wasser zum Gedenken an die Befreiung von der Pest gehören, aktualisieren das Bewusstsein der Einzigartigkeit und wirken gemeinsam mit den Werken der bildenden Kunst, der Musik und der Literatur an jenem vielgestaltigen Mythos mit, der zu einem integralen Bestandteil der verschiedenen städtischen Wirklichkeiten wird – einer faszinierenden Gemengelage aus vielfältigen Phantasien und sinnlicher Wahrnehmung. Seine Anziehungskraft büßt Venedig auch nach dem Verlust der faktischen Macht der Republik nicht ein; im letzten Jahrhundert der Unabhängigkeit, die der Einmarsch napoleonischer Truppen 1797 beendet, lassen seine Theater und seine Musik es noch einmal zu einer europäischen Kulturmetropole ersten Ranges werden, die bei keiner italienischen Reise und keinem Grand Tour ausgelassen wird, zu einem Ort, an dem sich das Leben feiern lässt wie nirgends sonst, und zu einem Raum der Imaginationen.

Zu den Mythen, die um die Vorstellung der Unsterblichkeit kreisen und sich im Bau des Opernhauses La Fenice geradezu emblematisch zu verwirklichen scheinen, gesellen sich nun verstärkt solche der Dekadenz, die bis in die Moderne hinein wirkmächtig bleiben. Und doch bietet die Stadt der Filmfestspiele, der Architektur- und der Kunstbiennale bis heute nicht nur den Anlass zu künstlerisch fruchtbarer Melancholie. Bei allen bekannten Problemen – unter denen die drängendsten wohl die Erosion ihrer Bausubstanz und der Kampf gegen das Hochwasser, aber auch die immer größer werdenden Touristenströme bei ständig sinkender Einwohnerzahl sind – vermag sie sich dem Besucher nach wie vor so darzubieten, wie es dem Doppelsinn des Wortes sereno entspricht: erhaben und heiter. Dennoch dürfte realitätsblinder Optimismus ebenso wenig wie übermäßiger Pessimismus dazu beitragen, das Phänomen Venedig zu verstehen. Um dessen Komplexität gerecht zu werden, scheint es vielmehr geboten, einen differenzierten Zugang durch vielerlei Pforten zu versuchen, mithin Annäherungen an die vergangenen und gegenwärtigen Wirklichkeiten der Inselstadt und die plurimediale Karriere ihrer Mythen beispielsweise aus historischer, kunstgeschichtlicher, literatur- und musikwissenschaftlicher wie auch aus ökologischer Richtung zu unternehmen.

arrow right iconBuchveröffentlichung: "Wie sonst nirgendwo... Venedig zwischen Topographie und Utopie.", ISBN: 978-3-8260-6119-6, Autor: Kuhn, Barbara, Erscheinungsjahr: 2017

2013/14

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Barock

Was ist Barock?
Epoche – ästhetisches Konzept – Denkform

Mit dem Namen Barock wird jene Epoche bezeichnet, in der Kunst und Kultur vom späten 16. bis zum 18. Jahrhundert in triumphierender Inszenierung den Neubeginn nach dem tridentinischen Konzil gefeiert haben, wie unter anderem die vor allem im oberdeutschen Raum entstehenden Sakralbauten und Residenzen zeigen. Sie führen, etwa in den großen Residenzstädten wie Würzburg oder Bayreuth und nicht zuletzt in Eichstätt, die besondere Prägung des süddeutschen Barock vor Augen. Der emphatischen Feier der göttlichen Wahrheit und Ewigkeit steht jedoch gleichzeitig das Bewusstsein von menschlicher Scheinhaftigkeit und Vergänglichkeit gegenüber. Im Spannungsfeld von Zweifel und Gewissheit bewegen sich auch Philosophie und Naturkunde der Epoche. Während die frühen empirischen Naturwissenschaften die Abhängigkeit des Wissens von Beobachtungsszenarien betonen, stellt Descartes den Zweifel in den Mittelpunkt einer Welt, die er insgesamt als abhängig von ihrer gedanklichen Erschließung erkennt.

Nicht einmal die Herkunft des Begriffs Barock ist endgültig zu klären: So hat man ihn unter anderem auf die portugiesische Bezeichnung für eine unregelmäßige Perle oder auf das mnemotechnische Kürzel für einen als besonders abenteuerlich geltenden rhetorischen Schluss zurückgeführt. Dies zeigt schon, dass der Begriff Barock, der üblicherweise vor allem mit den Bildenden Künsten, der Musik und der Literatur in Verbindung gebracht wird, ein Begriff der gedanklichen und poetologischen Praxis ist und nicht auf starre Definitionen reduziert werden kann. Vielmehr bietet sich ein multiperspektivischer und transdisziplinärer Zugang an, der versucht, sich aus unterschiedlichen Richtungen der Frage anzunähern, was Barock ist.

Entsprechend werden in der Ringvorlesung aus der Perspektive der Kunstgeschichte, der Literatur- und der Musikwissenschaft sowie aus der Sicht der Geschichtswissenschaft, der Theologie und der Philosophie die unterschiedlichen Seiten und die Wandlungen des Konzepts Barock beleuchtet. Zugleich wird die Tragweite dieses Konzepts bis in die Postmoderne und bis in die Gegenwart zur Diskussion gestellt, zumal Eichstätt als der Ort dieser Ringvorlesung – unter anderem mit der Wiedereröffnung der restaurierten Sommerresidenz – die offen bleibende Frage nach der Vergangenheit in unserer aktuellen Gegenwart und der ständigen Gegenwart der Vergangenheit sozusagen an jeder Ecke, auf jedem Platz und in jedem Stein eindrücklich vor Augen stellt.

arrow right iconBuchveröffentlichung: "Barock. Epoche · ästhetisches Konzept · Denkform.", ISBN: 978-3-8260-5742-7, Autor: Brabant, Dominik / Liebermann, Marita (Hrsg.), Erscheinungsjahr: 2017